Rede, dass ich dich sehe
etwas bewirken. Ich merke bei meinen Lesungen und an Briefen, daß es da ein großes Bedürfnis nach Orientierung gibt. Vielleicht kann aus kleineren Zirkeln, die sich jetzt sammeln, mit der Zeit doch ein Einfluß entstehen auf die größeren Zirkel der Welt.
ZEIT : Könnte es sein, daß Menschen schwer leben können, wenn am Horizont der Zukunft nichts ist als der Traum vom eigenen kleinen Glück?
Wolf: Wenn Sie Utopie als Lebensnotwendigkeit sehen, dann sind wir schon zwei. Literatur ist ja an sich utopisch: Sie schafft eine Realität aus dem Nichts, die sich als tragfähig erweisen soll – als neue Realität.
ZEIT : Ihre großen Romane wie Kassandra und Medea enden katastrophal. Würden Sie sich selber als Apokalyptikerin bezeichnen?
Wolf: Ganz im Gegenteil. Ich bin immer auf der Suche nach den kreativen Zügen in Menschen oder Figuren, auch wenn ich beschreibe, daß sie untergehen. Kassandra, Medea, Karoline von Günderrode sind mir am liebsten, weil sie auf der Suche nach Zukunft sind.
ZEIT : Das sind aber alles gescheiterte Figuren.
Wolf: Ich habe einen anderen Begriff von Scheitern. Kassandra ist nicht gescheitert, sondern besiegt, vernichtet, getötet. Aber sie hat, ebenso wie Medea, das Ihrige getan, ist nicht stumm geblieben oder hat sich unterworfen. Wie wäre denn die Geschichte, wenn es solche Figuren nicht gegeben hätte? Trostlos! Wir müssen schon mutig sein.
ZEIT : Die mutigen Helfer jetzt in Japan, die sich ins Katastrophengebiet wagen: Wären das auch Figuren, über die Sie schreiben könnten?
Wolf: Das ist wirklich Sache von Reportern. Ich bewundere die, die in Japan noch Bericht erstatten und uns diese Bedrohung vermitteln und vielleicht dadurch etwas bewirken. Wir wollen sehen, was los ist. Das wäre nicht Sache der Literatur. Was ich zum Thema sagen konnte, habe ich im Störfall gesagt.
ZEIT : Zu Anfang des Buches geht es um Metaphern, die man nach dem GAU nicht mehr benutzen kann. Etwa, daß das Grün des Frühlings explodiert.
Wolf: Ja, damals habe ich auch geschrieben: Welcher Autor kann jetzt noch das Wort Wolke naiv verwenden? Wer will noch sagen: Wie herrlich leuchtet mir die Natur! Aber es hat sich gezeigt, daß man das sehr wohl weiter kann, weil das Schreckliche wieder vergessen wird. Jetzt, während ich die Bilder aus Japan sehe, denke ich überhaupt nicht an Dichtung. Ich empfinde einfach eine unheimliche Bedrückung, die mich bis in den Schlaf verfolgt.
ZEIT : Der letzte Satz von Störfall lautet: »Wie schwer würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.« Welches Gefühl überwiegt bei Ihnen: Angst oder Zorn?
Wolf: Trauer. Um diese unglücklichen Menschen und um unsere Erde, die eine tiefe Wunde empfangen hat.
2011
Textnachweise
Zeitschichten. Zu Thomas Mann. Rede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises am 24. Oktober 2010 in Lübeck. Erstveröffentlichung auszugsweise in: DIE ZEIT , 2. Dezember 2010, unter dem Titel Des Teufels schauderhaftes Gebot .
Begegnungen mit Uwe Johnson. Rede zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises am 24. September 2010 in Neubrandenburg. Erstveröffentlichung in: Sinn und Form, Nr. 2, 2011.
C Gespräch im Hause Wolf über den in Vers und Prosa
G sowohl als auch stückweis anwesenden Volker Braun . Rede von Christa und Gerhard Wolf zum 65. Geburtstag von Volker Braun am 7. Mai 2004 in Berlin. Erstveröffentlichung in: Volker Braun & Zeitgenossen. Der Kassensturz. Hg. von Manfred Jendryschik, Halle/Saale 2010, S. 96-100.
Autobiographisch schreiben. Zu Günter Grass ' Beim Häuten der Zwiebel. Erstveröffentlichung in: die horen, Nr. 5, 2007, S. 119-121.
Der Tod als Gegenüber. Zu Überlebnis von Ulla Berkéwicz. Erstveröffentlichung in: Berliner Zeitung, 26./27. April 2008.
Rede, daß wir dich sehen. Versuch zu dem gegebenen Thema »Reden ist Führung« . Rede auf dem Kongreß der Redenschreiber im September 2000 in Berlin. Erstveröffentlichung auszugsweise in: Der Freitag, 15. September 2000. Enthalten in: Christa Wolf, Werke, Bd. 12: Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1987-2000, S. 729-746.
Nachdenken über den blinden Fleck. Rede auf dem 45. Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Berlin am 25. Juli 2007. Erstveröffentlichung.
Mit Realitäten umgehen, auch wenn sie einem nicht gefallen. Egon Bahr zum achtzigsten Geburtstag. Erstveröffentlichung in: Architekt und Brückenbauer. Gedanken Ostdeutscher zum 80. Geburtstag von Egon Bahr, hg. für die
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