Abgehakt
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Wieder einmal stand sie vor der weißen Wand, an der nur dieses eine große Bild mit den wilden Farben und Formen hing. Seine Besitzerin verglich es oft mit dem sinnlosen Gekleckse eines vierjährigen Kindes, und doch hatte sie dieses Bild vor drei Jahren aus einer Laune heraus gekauft. Die Frau betrachtete verträumt jeden einzelnen der roten und blauen Pinselstriche. Ein Bild ganz ohne grün. Sie hasste grün. Alle Welt nannte grün die Farbe der Hoffnung. Was für ein ausgemachter Blödsinn.
Vorsichtig griff sie nach dem rotglänzenden Rahmen, hob das Bild vom Haken und stellte es zur Seite. Zum Vorschein kam ein knallgrün bemaltes Stück Wand, auf dem einige Fotos in drei Reihen mit Reißzwecken befestigt waren. Auf allen Bildern waren Frauen zu sehen.
In der ersten Reihe hingen vier Bilder einer hübschen, blonden, langhaarigen Frau mit einem bezaubernden Lächeln. Ihre Fotos waren mit einem fetten, roten Haken versehen. Sie war tot.
Die zweite Reihe zeigte ebenfalls vier Aufnahmen einer Frau, die sehr jung zu sein schien und nicht weniger attraktiv als diejenige aus der ersten Reihe. Auch ihre Bilder waren rot abgehakt.
Diesen Fotos widmete die Betrachterin heute keine Aufmerksamkeit. Sie standen für erledigte Fälle. Jetzt galt es, der Frau auf den Fotos in der dritten Reihe das Lächeln vergehen zu lassen. Sie wusste, es war so weit. Seit einigen Tagen konnte sie die Fotos von Marita Janz ohne Hass ansehen. Hass vernebelt die Sinne, und die brauchte sie für ihr Vorhaben.
Sie konnte und wollte sich keine Fehler leisten.
Diesmal hatte es lange gedauert. Mindestens vier Monate hatte sie ihr Opfer überwacht. Wie immer hatte die Frau auch Marita Janz zunächst mehrfach Drohbriefe geschickt. Doch Marita hatte sie ignoriert und war sogar so weit gegangen, einen Zettel an die Heckscheibe ihres Wagens zu kleben: Leck mich am Arsch, Briefeschreiber!
Die Frau lächelte. Ihr nächstes Opfer schien keine Angst zu kennen, was eine besondere Herausforderung darstellte. Sie genoss die Vorstellung, Marita mit ihrem Erscheinen in Panik zu versetzen. Irgendwann würde auch sie um ihr Leben betteln. Entschlossen hängte sie das Bild zurück an seinen Platz, packte ihre Sachen und verließ das Haus.
Marita Janz räkelte sich wohlig in ihrem Bett, während sie Ulf dabei zusah, wie er seine Sachen zusammensuchte und sich anzog. Sie kannten sich bereits seit einem halben Jahr und verbrachten jeden Montag und Freitag zusammen. Dass Ulf verheiratet war, störte Marita überhaupt nicht. Im Gegenteil. An einer festen Bindung war sie sowieso nicht interessiert. Dazu war sie viel zu freiheitsliebend. Zwei Abende die Woche mit einem netten Mann und guten Lover zu verbringen, schien für sie genau das Richtige zu sein.
Auch für Ulf war sie genau aus diesem Grund die perfekte Geliebte. Er musste ihr nie sagen, dass er sich von seiner Frau trennen würde, um für sie frei zu sein. Er konnte ihr absagen, wann immer es nötig war, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.
Er setzte sich zu Marita auf die Bettkante und fuhr zärtlich die Linie ihrer Lippen nach. »Ich hatte heute wieder viel Spaß mit meiner kleinen Wildkatze.«
»Kunststück! Bei deiner Glanzleistung als Dompteur.«
»Ja.« Ulf lachte. »Und die nächste Vorstellung lässt auch nicht mehr lange auf sich warten.«
»Ich kann’s kaum erwarten.« Sie schnurrte wie eine Katze und zog ihn zu sich, um ihn zu küssen.
»Ich seh’ dich am Montag in der Manege wieder«, verabschiedete er sich und ging zur Tür.
»Vergiss deine Peitsche nicht«, rief sie ihm hinterher. »Ich kann keinen Dompteur ohne Peitsche gebrauchen.«
Marita hörte ihn lachen, dann fiel die Tür ins Schloss. Sie griff nach einer Zigarette auf dem Nachttisch und zündete sie an. Zufrieden verfolgte sie mit den Augen, wie der ausgeblasene Rauch zur Decke stieg, als es an der Tür läutete. Sie klemmte die Zigarette in den Aschenbecher und sprang nackt wie sie war aus dem Bett. Für Ulf musste sie nichts überziehen. Ihr Geliebter vergaß ständig irgendetwas. Statt direkt beim Weggehen zu kontrollieren, ob er alles beisammen hatte, tat er dies erst, bevor er zu Hause aus dem Wagen stieg. Heute schien er jedoch sofort etwas gemerkt zu haben. Wahrscheinlich hatte er seinen Schlüssel zu ihrer Wohnung liegenlassen. Warum sollte er sonst wohl klingeln? Schwungvoll öffnete Marita die Tür. Ihr Lachen brach abrupt ab, als sie nicht Ulf, sondern eine fremde Frau vor sich sah, die
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