Reise zu Lena
sind seit Jahrzehnten dieselben, einmal konnten wir ein Stück vom Nachbarn übernehmen. Du wolltest einen Gemüsegarten anlegen. Und Bäume pflanzen.«
Sie ging neben ihm, wie immer aufrecht, eine schlanke, stattliche Frau, die sich vor niemandem beugen musste. Auch sie schien zu wachsen, ob sie ihn bald überragen würde? Ihr Gesicht, die klaren, wie gezeichneten Linien, von Jahr zu Jahr tiefer eingegraben, streng, so, als ob man ihr in den verstrichenen Jahren und Jahrzehnten wenig, zu wenig geschenkt hätte, eine Empfindung, die ihn in Schuld versetzte.
»Ich erinnere mich an zwei Bäume, Ann, die ich gepflanzt habe, einen Kirschbaum und einen Apfelbaum. Der Kirschbaum ist eingegangen und, zugegeben, der Apfelbaum wollte nie so recht tragen, aber ich glaube, er kommt noch. Er braucht seine Zeit. Und dann der Gemüsegarten, den wir gemeinsam . . .«
»Ja, das stimmt. Aber Du hast mich im Stich gelassen und ich war allein.«
»Du hast recht, Liebes, ich hatte keine Zeit, die Firma fraß mich auf.«
»Du hast Dich von der Firma auffressen lassen.« Er hörte ihr Lachen, das in einem tiefen Bellen endete. Ihr Husten schien nicht zu enden, schließlich:
»Du warst zu gut zu den Leuten, hast Dich auf jeden Einzelnen eingelassen. Als Boss muss man schon mal auf den Tisch hauen, wie Vater es getan hat.«
»Das war nach dem Krieg. Alle bewunderten ihn für seine Härte.«
»Er war ein Vorbild, ein wunderbarer Mann. Er wollte sich nicht ducken. Bei den Nazis musste er dafür bezahlen, es hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Ich war noch ein Kind, aber ich erinnere mich, wie wir zu Hause vor Angst fast starben. Die Gestapo kam in unser Haus, stellte unserer Mutter Fragen. Und einmal nahmen sie Mutter den ganzen Tag mit. Meine Schwester, ich und die Tante, deren Mann in Russland gefallen und die damals ausgebombt worden war, zitterten um sie. Wegen seiner Verbindungen zum Widerstand war Vater schon zum Tode verurteilt worden. Nur die Befreiung durch die Alliierten rettete ihm das Leben. Ich lebte auf, er war mein Stern.«
Sie saßen auf den beiden Holzstühlen, die Ann neu angeschafft hatte. Er lehnte sich weit zurück:
»Nicht jeder hatte soviel Zivilcourage wie Dein Vater, das ist richtig.«
»Deine Familie war vorsichtiger, Dein Vater hat mitgemacht, marschierte mit. Er passte sich an, wie die Meisten.«
Ihre Stimme hatte wieder diesen scharfen Ton.
Er wies hinüber zum Ende des Gartens:
»Schau rüber, die Himbeersträucher sind immer noch da. Sie werden bald blühen. Du, Liebes, hast sie gepflanzt, als die Kinder noch klein waren. Wir haben den halben Sommer davon gegessen.«
Sie gingen langsam zurück zum Haus, der kalte Wind blies heftiger. Die Weide, die als erste mit ihrem hellen Grün ihn erfreute, fraß sich mit ihren dicken Wurzeln tiefer und tiefer ins Erdreich, um mit ihren Enden wieder aufzutauchen, die hohe Krone dort unten in ihrer Weite übertreffend, dicke Adern die Erdkruste überwindend nach oben schiebend. Er stolperte, schob blitzschnell den Stock nach vorne und suchte mit seiner Linken bei ihr Halt.
Er blinzelte zu ihr hinüber. Aufrecht wie immer ihr Körper. Ein Soldat, dachte er, ein Soldat. Seine Ann, wie immer perfekt, in ihrem eleganten, eng anliegenden Cape, über das sie den weiten hellen Schal geworfen hatte, die Haare strahlten silberhell, ihr schönes Gesicht war verschlossen. Nicht eigentlich eine Maske, dachte er, nein, aber doch etwas wie ein geheimnisvoller Firniss liegt über ihr, ein Schutzschild.
»Hast Du Deine Tabletten genommen?«, fragte sie beharrend.
Am Sonntag kam Anton mit seinen Kindern, drei Jungen mit blonden Haaren. Sie liefen auf den Großvater zu, umarmten ihn mit ihren schmalen Armen, flüsterten ihm aus heißen Mündern etwas Unverständliches ins Ohr, um wie ein Wirbelwind in den Garten zu verschwinden. Gleich darauf hörte er die tiefe Stimme von Anton. Er schimpfte:
»Wollt Ihr wohl aus dem Teich rauskommen! Sofort! Ihr werdet Euch erkälten, zieht die Socken und die Schuhe wieder an! Wollt Ihr endlich hören!«
Es war, als höre er sich selbst rufen. Nach Glorie. Sie steht mit ihren dünnen Beinchen bis zu den Knien im Wasser, gebückt, betrachtet die Fische mit geschürztem Rock. Sie achtet nicht auf ihn, ihre Augenbrauen sind nach unten gezogen. Er sagt nichts mehr. Sonst wird sie sagen: »Papi, bitte sei still! Ich bin traurig.«
Warum hatte er damals nicht geantwortet: »Glorie, auch ich bin traurig. Auch ich . . .« Vielleicht hätte
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