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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Schwindel.
    Seht euch das an, rief Stefan, dieser Barman, dieser kleine, flinke Barman ist Palästinenser.
    Der Arbeiter küßte die andere Irene auf den Mund. Sagte mit nassen Lippen:
    Als der Großvater die Großmutter nahm, wußte man noch nichts von Mamsell und Madam.
    Der Arbeiter schaute Irene an:
    Und die Männer in Badehosen aus der Sonne in die Kirchen. Das müßte man verbieten.
    Ja, alles nur Schwindel, sagte Stefan zu Irene. Weshalb glaubst du daran. Das ist erfunden, und du glaubst daran.
    Ja, lächelte Irene, wenn keiner da ist, den man liebt, und die Städte so verworren, hab ich Lust, mein Leben mit einem Verbrechen zu beginnen.
    Irene schaute Thomas an. Dann Franz. Einer hatte das Gesicht des anderen angenommen.
    Ich geh mir jetzt ein Erdbeereis bestellen, sagte Franz mit Thomas Mund.
    Die andere Irene erhob sich vom Stuhl:
    Ich glaub, ich bin heiß. Ich kann die Meerestiere auf den Bildern nicht mehr ansehn.
    Das sind die Levkojen, sagte Stefan, ich bin fast besoffen von den Levkojen.
    Die Stimme der anderen Irene wurde noch tiefer:
    Also, wenn uns nichts mehr einfällt, was zu sagen wäre, geh ich. Morgen können wir telefonieren. Wer weckt mich morgen: Ich würde nie abheben, wenn es läutet. Doch, wenn ich schlaf, bin ich neugierig. Ich kann mich nicht beherrschen. Wenn ich weiß, wer es ist, würde ich am liebsten wieder auflegen.
    Der Arbeiter sah Irene an. Dann die andere Irene:
    Wer von euch beiden ist denn die Attrappe.
    Thomas oder Franz begleitete Irene nach Hause. Irene sah in den Mond, der hinter einem Baum stand. Dann auf den Schatten des Baumes, der über der Haustür hing. Zwischen Mond und Schatten hatte das Gesicht, das Irene küßte, eine bläuliche Farbe. Auch nach dem langen Zungenkuß wußte Irene nicht, ob Thomas oder Franz sie küßte.
    Einer von beiden sagte:
    Beim Küssen darf man den Mond nicht ansehn, die Bäume nicht ansehn und die Schatten nicht ansehn. Du sollst Augen haben nur für mich.
    Das macht müde, sagte Irene. Ihr sollt mich beide nicht verlassen.
    Und einer von den beiden sagte:
    Dich nicht. Wenn es sein muß, dann die andere Irene.

19
    ZWEI BRIEFE fielen aus dem Briefkasten. Den einen, Irene erkannte den grauen, rauhen Umschlag, nahm sie, ohne ihn näher anzusehn, in die Hand.
    Irene dachte an Dana und riß im Treppenhaus den zweiten Brief auf. Beim Treppensteigen las Irene: Senat für Inneres auf dem Briefkopf. Darunter: daß sie die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten habe. Sie solle sich in einer Woche zur Überreichung der Staatsbürgerschaft auf Zimmer 304 melden.
    Irene freute sich nicht. Sie las weiter, als gehe es in dieser Mitteilung nicht um sie. Den Zusammenhang, in dem die Wörter »Festessen« und »Begrüßungsansprache« im letzten Absatz standen, verstand Irene nicht.
    Der Magen schwebte zwischen Kehle und Knie. Sie setzte sich, um ihn aufzufangen, an den Küchentisch. Sie spürte den Stuhl nicht, sah an sich herab, um zu wissen, ob sie wirklich saß. Sie öffnete Danas Brief.
    Der Trommler habe sich erhängt, schrieb Dana.
    Die Stuhllehne drückte in den Rücken.
    Der Trommler war so alt, wie Irene selber war.
    Irene beugte sich nach vorn, legte das Kinn auf den Tisch. Lauter Todeskandidaten, hatte der Trommler einmal zu Irene gesagt. Hatte zuerst auf sich selbst und dann auf die beiden anderen Männer gezeigt, die Irene nichtkannte. Er hatte gelächelt, hatte ihr die beiden anderen Männer nicht vorgestellt, als habe das keinen Sinn.
    Er hat oft nach dir gefragt, schrieb Dana. Wenn ich ihm dann von dir erzählt hab, hat er nicht zugehört. Es tut mir leid, schrieb Dana.
    Was tat ihr leid, daß er sich erhängt hatte oder daß er nicht zugehört hatte. Irene wußte es nicht.
    Irene wußte, daß eine Zeit kommen würde, wo sich die Lebenden und die Toten gleich verteilten. Doch später, diese Zeit komme später, hatte Irene früher gedacht. Diese Zeit komme dann, wenn man selbst nicht mehr lange zu leben hat.
    Es gab mehrere Freunde, die so alt wie Irene waren und tot. Seit sie tot waren, ähnelten sie einander. Eine Ähnlichkeit am Rande. Doch es war derselbe Rand.
    Auch Lebende, es waren immer Fremde, ähnelten den Freunden, seit sie tot waren. Fremde in der Stadt, in der Irene lebte, und Fremde in anderen Städten. Es waren Lebende, die Irene erschreckten. Sie trugen die Toten noch einmal an ihr vorbei. Sie wußten es nicht. Auch nicht, weshalb Irenes Blick so lang an ihnen hängen blieb, ohne sich zu zähmen.
    Es ist kein Wunder,

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