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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

Titel: Reisende auf einem Bein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Karten las, nie sehen konnte, quälte sie. Es war für Irene die größte Unzulänglichkeit der Entfernungen.
    Auch die Stadt, in der Franz lebte, driftete in ihren eigenen Straßen immer weiter ab. Und am Abend fiel sie in den Innenhof. Oder war es der Holunder, der, weilsich das Licht verlor, seine Blätter wie Ohren näher an die Zweige zog.
    Marburg lag so fern, daß es nur noch den Namen gab. Auf der Landkarte war der Name kleiner als Frankfurt. So groß wie Irenes Fingernagel war die Stadt.
    Irene deckte die Buchstaben mit der Fingerspitze zu, um sie zu halten.
    So viele Gänge gab es nicht in Irenes Kopf, wie viele Wege Marburg gefunden hatte, um sich zu entfernen.
    Auch durch Irenes Fingerspitze entfernte sich Marburg. Auch durch Irenes Schuhe, wenn sie ging.
    Jeden Tag gab Irene der Stadt, in der Franz lebte, die Möglichkeit, sich zu entfernen. Denn Irene konnte nur in eine Richtung gehn. Die Stadt, in der Franz lebte, entfernte sich in die andere Richtung.
    Marburg suchte sich den äußersten Punkt aller Straßen, um sich zu entfernen.
    Wenn Irene die Stadt, in der Franz lebte, im Gedächtnis fand, lag sie unter gelben Blättern mit langen, rötlichen Stielen.
    Im Fernsehen sah Irene ein landendes Flugzeug. Es lande mit Verspätung, sagte der Nachrichtensprecher.
    Die Verspätung sah Irene auf dem Bildschirm nicht.
    Nur der Schnee, der sollte, so sagte der Nachrichtensprecher, der Grund für die Verspätung sein.
    In Moskau lag schon Schnee.
    Der Mann, der aus dem Flugzeug stieg, war Pilot und Staatsgast zugleich.
    Der Himmel hatte eine helle und eine dunkle Hälfte. Die Militärmusik spielte.
    Als der Pilot und Staatsgast auf den Schnee trat, warer in seinem dunklen Anzug größer und breiter als in allen anderen Zusammenhängen, die Irene kannte.
    Vielleicht weil der Himmel eine helle und eine dunkle Hälfte hatte, vielleicht weil der Schnee so weiß war und der Anzug so dunkel, sagte Irene:
    Jede Landung ist ein Angriff auf die Stadt.
    Irene sagte den Satz laut, als der Staatsgast salutierte.

18
    DER ALTE MANN wankte in Irenes Wohnung. Er schloß mit gespreizten Fingern die Tür hinter sich. Irene sah den Dreck unter seinen Nagelrändern.
    Sein Haar war grau und spröd, wie bei alten Leuten, denen das Haar nicht ausfällt. Es war dichter geworden, da nichts mehr drin war als diese leblose, wachsende Farbe. Es wuchs auf Kosten des Gesichts. Es reichte bis zu den Schultern.
    Im Bad floß das Wasser in die Wanne über hautfarbene Strumpfhosen. Sie blähten sich. An ihren Rändern quoll Schaum.
    Der alte Mann schaute in die Wanne:
    Wie Wasserleichen.
    Irene wischte ihre tropfenden Hände ab:
    Wo kommst du her.
    Vom Nollendorfplatz.
    Wo ist deine Schirmmütze.
    In der U-Bahn.
    Wo fährt sie hin.
    Zur Krummen Lanke.
    Was tut sie dort. Wer hilft ihr beim Umsteigen.
    Ja eben, was tut sie dort.
    Und morgen, was tust du morgen.
    Das wird sich zeigen.
    Ohne deine Mütze gibt dir niemand Geld.
    Vielleicht kommt sie zurück.
    Der Mann sah die Collage an der Küchenwand. Er zeigte auf das offene Tor, vor dem Kopfsteinpflaster ins Leere führte:
    Die Straße kenn ich gut. Jeden Stein. Und wie der Staub treibt. Der Wind weht auch an windstillen Tagen. Das Kopfsteinpflaster führt aus dem Tor hinaus. Auf deinem Bild führt es ins Tor hinein. Dein Bild ist richtungsverkehrt.
    Wer hat dich hergeschickt.
    Thomas. Dein Bild ist leer, Irene. Nicht nur leer. Auch tot. Du meinst, weil du immer dort sitzt und nicht drauf bist.
    Wenn ich drauf wär, wär ich wie das Bild.
    Der Mann schaute auf den Küchentisch:
    Einmal hast du mir zehn Mark gegeben. Ich habe das Geld nicht in der Mütze liegen lassen. Ich habe nach dem Geld gegriffen, und du hast mich angesehen. Seither kenn ich dich. Der Wind hat geweht.
    Das war vor einem Jahr.
    Vor einem halben. Seitdem hast du mir nie wieder etwas gegeben. Weshalb hast du mir das Geld nicht eingeteilt.
    Ich bin dir ausgewichen. Ich habe oft an dich gedacht. Ich weiß, das ist kein Geld.
    Irene zeigte auf die Collage. Stellte sich auf die Zehenspitzen und zeigte auf ein Bild:
    Siehst du die kleinen Ganoven am Wasser stehn. Sie tragen die gleichen Schirmmützen wie du. Sie fliehen die Städte.
    Thomas sagt, wenn kein Betrug in Sicht ist, sind sie einsam. Siehst du, sie sind auf dem Bild und sind nicht tot.
    Sie sind jung. Wenn sie so alt sind wie ich, wird sich das ändern.
    Wenn sie das erleben.
    Gerne hätte Irene die Monate dieses Landes an den Händen der kleinen Ganoven gezählt. Hätte

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