Der Himmel ist kein Ort
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ES WAR DAS ERSTE MAL in seiner anderthalbjährigen Amtszeit als Pfarrer, dass er nachts zu einer Unfallstelle gerufen wurde,
weil jemand seelischen Beistand brauchte. Das entsprach einem kirchlichen Service, der sich eigentlich von selbst verstand,
den er aber kurz nach seinem Amtsantritt, in der Absicht, die kirchliche Arbeit lebensnäher zu gestalten, zusammen mit vier
Amtskollegen aus benachbarten Pfarreien zu einer Institution gemacht hatte. Sie stand unter dem etwas gewaltsam zusammengesetzten
Namen »Notfallseelsorge« im Telefonbuch und war bei Feuerwehr und Polizei und den verschiedenen Rettungsdiensten als eine
bei Unfällen abrufbare geistliche Hilfe notiert, inzwischen aber in Vergessenheit geraten, wenn man das überhaupt sagen konnte
von einer Einrichtung, die noch nie jemand in Anspruch genommen hatte. Zwar gaben die fünf kooperierenden Pfarrämter halbjährlich
eine Liste heraus, aus der hervorging, welcher Pfarrer des Bezirks Bereitschaftsdienst hatte, aber als der Anruf kam, hatte
er weder die Termine noch überhaupt die Liste im Kopf. Und er zögerte, den Hörer abzuheben.
In letzter Zeit hatte er abends manchmal merkwürdige |6| Anrufe bekommen: Geständnisse einer älteren verwitweten Frau mit unüberhörbaren sexuellen Untertönen und zweimal anonyme Anrufe
einer jüngeren weiblichen Stimme, bei denen er sich nicht sicher war, ob sich da jemand, vielleicht sogar vor heimlichen Mithörern,
über ihn lustig machte. Die Stimme hatte Formulierungen benutzt, die er als seine eigenen wiedererkannte und auf einmal als
hohl und peinlich empfand. Gewohnt zuzuhören, hatte er die Gespräche zu spät abgebrochen und war in einer nervösen Verstörtheit
zurückgeblieben, die es ihm den restlichen Abend schwer machte, sich noch auf irgendetwas zu konzentrieren.
Er lebte allein in dem großen Pfarrhaus, das seine Vorgänger während des größten Teils ihrer Amtszeit mit vielköpfigen Familien
bewohnt hatten, und war ein Gefühl von Unangemessenheit und Fremdheit nicht losgeworden. Eigentlich hatte er vorgehabt, vor
seinem Einzug zu heiraten. Doch Claudia, seine Freundin aus der Zeit seines Vikariats, war vor dem entscheidenden Schritt
zurückgescheut und hatte sich von ihm getrennt. Sie war in eine andere Stadt gezogen und hatte ihm weder ihre neue Adresse
noch ihre Telefonnummer mitgeteilt. Er hatte sie allerdings auch nicht darum gebeten, weil er annahm, dass sie zu einem anderen
Mann gezogen war. Die vielen Gespräche, die sie in den Monaten vor ihrer Trennung geführt hatten, waren für ihn auf ihren
Satz geschrumpft: »Wir passen eben nicht zusammen.« Das war ihr Angebot gewesen, die Trennung als eine vernünftige und notwendige
gemeinsame Entscheidung |7| zu betrachten. Aber es hatte auch andere Töne gegeben: Streit und kurze Versöhnungen und nicht mehr gutzumachende Worte.
Für ihn war die Trennung ein Schock, auch wenn er sich sagte, dass damit nicht allein seine Person gemeint war, sondern alles,
was er für Claudia repräsentierte: das Leben auf dem Land, in einer Ortschaft, die ein nach allen Seiten ausgewuchertes Dorf,
aber eben keine Stadt war, und das düstere, heruntergekommene Pfarrhaus, in das er dann allein eingezogen war.
Es war ihm schwergefallen, sich einzurichten. Ohne sie fehlte ihm die Phantasie und die Notwendigkeit, um im Haus viel zu
verändern und zu verbessern. Wozu? Er kam auch so zurecht. Das Dachgeschoss, in dem ursprünglich die Kinder seines Vorgängers
gewohnt hatten, hatte er ganz außer Acht gelassen. In den Räumen mit ihren stockfleckigen Tapeten waren kaputte Möbel und
mehrere Kisten voller alter Gemeindeakten abgestellt, die er sichten musste, bevor er das ganze Geschoss entrümpeln ließ,
was aus Gründen des Feuerschutzes längst fällig war. Aber da er für die Mansarden keine Verwendung hatte, war er dieser Arbeit
bisher aus dem Weg gegangen. Für seine Wohnung im ersten Stock hatte er einige ausrangierte Möbel seines Vorgängers übernommen
und sie mit seinen wenigen eigenen Möbeln zusammengestellt. Es wirkte zufällig und achtlos. Für einen Junggesellen, der Studienzeit,
Vikariat und den anschließenden Hilfsdienst noch nicht lange hinter sich hatte, blieb es eine ungewohnt große Wohnung, in
der er sich immer |8| noch etwas verloren fühlte. Anfangs hatte er abends einmal in allen Räumen das Licht brennen lassen. Doch nachdem ihn am nächsten
Tag eine Gemeindehelferin
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