Renner & Kersting 03 - Mordsgier
etwas beobachtet. Schade, dass er keinem Menschen erzählen durfte, was da wirklich geschehen war. Im Grunde nichts Schlimmes! Nichts wirklich Schlimmes – in seinen Augen jedenfalls. Schließlich muss jeder Mensch einmal abtreten. Den einen trifft es eher, den anderen später. Wenn er darüber nachdachte, wie viele Opfer täglich der Straßenverkehr fordert, der Haushalt, der Sport ... nein, da brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben. Das ganz natürliche Sterben fehlte noch in seiner Aufzählung, ebenso Krankheiten und Naturkatastrophen. So viele Tote! Da kam es auf einen mehr oder weniger nun wirklich nicht an. Im Übrigen wurde seiner Meinung nach sowieso viel zu viel Aufhebens um den Tod gemacht. Besonders im Westen. Wer kümmerte sich um die unschuldigen Opfer in den Krisengebieten? Die wurden nicht einmal mehr gezählt. Und dieser ganz spezielle Tote tat sogar ein gutes Werk, wenn auch ungewollt und unbewusst. Und wer weiß ... vielleicht hatte auch er ein gutes Werk getan, indem er dem Betroffenen zum vorzeitigen Eintritt ins Paradies verhalf. Er kicherte boshaft. Das Paradies. Ein von den Kirchen erfundenes Hirngespinst, das ihnen hilft, Macht auszuüben, indem es das Unfassbare erklärt und ertragbar macht. Eine Idee für Träumer, für ängstliche Typen, die sich nicht damit abfinden können, dass das Leben nun einmal begrenzt ist. Er gehörte nicht zu diesen Weicheiern. Er brauchte niemand, der ihm sagte, was zu tun sei. Er entschied selbst über sein Leben. Jeder ist seines Glückes Schmied. Jawohl! Er konnte die jammernden und Mitleid heischenden Typen nicht ausstehen. Man brauchte nur ein wenig Initiative und Kreativität, und schon befand man sich auf der Sonnenseite des Lebens.
Flexibilität und schnelles Einschätzen einer Situation gehörten schon immer zu seinen Stärken. Das hatten sogar seine Pauker erkannt. Fünfundzwanzig Jahre war es her, dass er diese Schule besucht hatte. Er erinnerte sich als wäre es gestern geschehen, wie Oberstudienrat Heimann ihn beim Rauchen auf der Toilette erwischt hatte. Seine Klasse probte gerade ›Das fliegende Klassenzimmer‹. Genau das hatte er auch erzählt und dreist behauptet, er spiele den Vesuv und müsse dafür üben. Der Heimann hatte so schrecklich lachen müssen, dass er ihn ohne Strafe hatte ziehen lassen.
Die zuschlagenden Türen eines Notarztwagens holten ihn zurück in die Gegenwart. Auch er hatte vor der Schule angehalten. Ein Notarzt! Sollte sein Opfer etwa überlebt haben?
Wieder schellte es. Ende der sechsten und letzten Schulstunde. Stühle kippten, Taschen flogen, als die Schüler der vierten Klasse aufsprangen und unter ohrenbetäubendem Gejohle zur Tür rasten. Jeder wollte der Erste sein. Nur mit viel Mühe hielt die Lehrerin jene zurück, die ihre Stühle nicht hochgestellt oder ihre Bücher auf dem Tisch vergessen hatten. »Veronika, wartest du bitte einen Moment, ich möchte noch mit dir reden!«
Veronika Merklin blieb zögernd stehen. Sie war schmal und so dünn, dass es schien, als drückten Größe und Gewicht ihres Tornisters sie zu Boden. Das lange, hellblonde Haar trug sie zu altmodischen Zöpfen geflochten, jedoch als Zugeständnis an die herrschende Mode hing ihr eine orangerote Strähne in der Stirn. Unsicher blickte sie zur Lehrerin, als wüsste sie nicht recht, ob sie gehorchen sollte oder besser nicht. Sie ahnte, was Frau Renner von ihr wollte. Schließlich hatte sie heute die zweite mangelhafte Mathematikarbeit zurückbekommen, und in den anderen Fächern sahen ihre Leistungen auch nicht besser aus.
»Also Veronika«, fragte die Lehrerin dann auch erwartungsgemäß, als alle anderen Kinder die Klasse verlassen hatten. »Was ist mit dir los? Solche Zensuren bin ich von dir nicht gewohnt.«
Das Mädchen wand sich. »Ich weiß auch nicht.«
»Du warst vor noch nicht allzu langer Zeit die Beste in der Klasse.« Frau Renner schaute auffordernd zu Veronika, die mit gesenktem Kopf vor ihr stand und jeden Blickkontakt mied.
»Nun komm schon! Eine schlechte Zensur kann ein Ausrutscher sein, aber zwei? Liegt es an den anderen Kindern? Ärgern oder bedrohen sie dich, weil du gut bist? Ich hab’ mal gehört, wie der Niklas dich Streberin geschimpft hat.«
»Ja, ich meine nein, das hat nichts damit zu tun.« Das Kind schüttelte heftig den Kopf, ein Zopf löste sich, zwei Tränen rollten langsam die Wange hinunter. Sie schniefte.
»Ich kann dir nur helfen, wenn du mir sagst, was los ist.«
Es dauerte lange, und
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