Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund
Glasschneidern arbeitete. Auf dem großen Tisch lagerte er auch die gut geschützten Kartonbögen für die Passepartouts, eine dicke Rolle braunes Packpapier, Bindfaden, Draht, [26] Leimtöpfe und Kästchen mit Nägeln verschiedener Länge. An der Wand über dem Tisch hingen Messer und Hämmer in Haltern. Eigentlich mochte Jonathan die altertümliche Atmosphäre, das Fehlen jedes kommerziellen Schnickschnacks. Sein Laden sollte so aussehen wie die Werkstatt eines anständigen Handwerkers, und das war ihm, wie er fand, auch gelungen. Er verlangte niemals zu hohe Preise, hielt seine Termine ein und rief an oder schickte eine Karte, wenn er doch einmal nicht rechtzeitig fertig wurde. Die Kunden schätzten das, wie er bemerkt hatte.
Um fünf nach halb zwölf, als Jonathan zwei kleine Bilder gerahmt und mit den Namen der Kunden versehen hatte, wusch er sich über der Spüle Gesicht und Hände mit kaltem Wasser, kämmte sich und stand für einen Moment kerzengerade, während er sich auf das Schlimmste gefaßt machte. Dr. Perriers Praxis lag ganz in der Nähe in der Rue Grande. Jonathan drehte den OUVERT -Zeiger auf 14 : 30 Uhr, schloß die Ladentür ab und machte sich auf den Weg.
Bei Dr. Perrier mußte er im Vorzimmer warten, in dem ein verstaubter Lorbeerbaum vor sich hin kränkelte. Die Pflanze hatte noch nie geblüht; sie starb nicht, sie wuchs nicht und blieb, wie sie war. Jonathan fand, sie war wie er selbst. Immer wieder wanderte sein Blick zu ihr hinüber, obwohl er versuchte, an etwas anderes zu denken. Auf dem ovalen Tisch lagen alte, eselsohrige Ausgaben von Paris Match, doch die deprimierten Jonathan noch mehr als der Lorbeerbaum. Er mußte sich daran erinnern, daß Dr. Perrier auch noch im großen Krankenhaus von Fontainebleau arbeitete, sonst wäre es ihm absurd vorgekommen, sein Leben in die Hand eines Arztes mit einer so schäbigen [27] kleinen Praxis zu legen und seiner Prognose zu vertrauen, ob er leben oder sterben würde.
Die Sprechstundenhilfe kam und winkte ihn herein.
»Nun, wie geht’s unserem interessantesten Patienten?« Dr. Perrier rieb sich die Hände, dann streckte er ihm die Rechte entgegen.
Jonathan schüttelte sie. »Danke, ganz gut. Aber was ist mit diesen Tests – ich meine die von vor zwei Monaten? Wenn ich es recht verstehe, sind die Werte nicht so günstig?«
Dr. Perrier sah Jonathan, der ihn nicht aus den Augen ließ, ausdruckslos an. Dann lächelte er und zeigte gelbliche Zähne unter einem ungepflegten Schnurrbart.
»Nicht so günstig? Was meinen Sie damit? Sie haben sie doch gesehen.«
»Ja, aber… Ich bin kein Fachmann. Vielleicht –«
»Ich habe sie Ihnen doch schon erklärt. Was ist denn los? Fühlen Sie sich wieder erschöpft?«
»Nein, eigentlich nicht.« Jonathan spürte, daß der Arzt es eilig hatte, zum Mittagessen zu kommen, also fuhr er hastig fort: »Ehrlich gesagt, ein Freund von mir hat irgendwo gehört, mein… mein Zustand werde sich bald deutlich verschlechtern. Ich hätte vielleicht nicht mehr lange zu leben. Natürlich nahm ich an, diese Nachricht müßte von Ihnen stammen.«
Dr. Perrier schüttelte den Kopf, lachte, hüpfte wie ein Vogel herum und blieb vor einer Buchvitrine stehen, die dünnen Arme leicht auf die gläserne Deckplatte gelegt. »Mein Wertester, zunächst einmal hätte ich, wenn das wahr wäre, niemandem etwas gesagt. Das gebietet schon meine [28] ärztliche Schweigepflicht. Zweitens ist es nicht wahr, soweit ich aus den letzten Ergebnissen ersehen kann. Wünschen Sie einen weiteren Test? Heute noch? Ich könnte vielleicht für den späten Nachmittag im Krankenhaus…?«
»Nicht nötig. Was ich wirklich wissen will: Stimmt das auch? Sie würden mir doch nichts verschweigen, oder?« Jonathan lachte. »Nur damit ich mich besser fühle?«
»Ach, Unsinn! Halten Sie mich für so einen Arzt?«
Ja, dachte Jonathan und sah Dr. Perrier in die Augen. In manchen Fällen mochte das ein Segen sein, doch Jonathan fand, daß er es verdiente, die Wahrheit zu hören, weil er ihr ins Gesicht sehen konnte. Er biß sich auf die Lippen. Nun könnte er zum Labor in Paris fahren und darauf bestehen, Moussu, den Facharzt, noch einmal zu sprechen. Außerdem würde er womöglich heute mittag etwas aus Simone herausbekommen.
Dr. Perrier klopfte ihm auf den Arm: »Entweder Ihr Freund irrt sich – ich verkneife mir die Frage, wie er heißt! –, oder er ist in meinen Augen kein sehr guter Freund. Na gut, Hauptsache,
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