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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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Eins
1
    Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt. Ein Fallschirmspringer, der im Zentrum des Renaissancegartens landet. Dieser Renaissancegarten ist geometrisch gestaltet, sechs von Hecken gesäumte Trapeze umgeben ein kreisförmiges Zentrum. Radius: nicht mehr als fünf Meter. In diesem Zentrum landet Mortimer.
    Steht Miss Molly am Fenster? Zweifellos wäre das eine schöne Szene. Für einen Film, den ein Fellini hätte drehen können. Miss Molly steht am Fenster, sie hat den weißen Vorhang ein wenig beiseite geschoben. Und sieht Mortimer, einen soeben mit dem Fallschirm gelandeten, amerikanischen Soldaten.
    Das heißt: Sie sieht ihn noch
nicht
– er ist ja vorerst vom Fallschirm bedeckt. Oben Miss Molly, die den Vorhang ein wenig beiseite gezogen hat, unten Mortimer, der unter der Fallschirmseide hervor muss. Das soll möglichst rasch gehen, aber es ist nicht so einfach. Verwicklungen kommen vor, bei aller Routine.
    Miss Molly wartet, bis sich der Mann entpuppt. Gewiss, eine schöne Filmszene, sagte Julia.
    Fellini hat diesen Film nicht gedreht, Gott sei Dank. Denn vielleicht werde ich ihn eines Tages drehen, sagte Marco.
    Die Maschine ist tief geflogen, über Miss Mollys Kopf haben die Dachziegel gezittert. Ein Jagdbomber P-40 (
Tomahawk
) oder P-47 (
Thunderbolt
). Es ist ein Tag im Frühling 1944. Die alliierten Truppen sind vom Süden heraufgekommen.
    Ist der amerikanische Soldat zielgenau gelandet? Nein, das ist Unsinn. Mortimer hat dieses Ziel nicht anvisiert. Er hat
aussteigen
müssen, die Maschine war von der deutschen Flak getroffen. Irgendwo jenseits der Stadtmauer ist sie explodiert.
    Dass der Kreis, in dem er vorläufig noch mit dem Fallschirm kämpft, beinahe so aussieht wie das Zentrum einer Zielscheibe, kommt ihm erst später zu Bewusstsein. Reiner Zufall, dass er darin gelandet ist – oder war es am Ende doch Fügung? Auf jeden Fall, so wird er später erzählen, ist er in diesem Kreis gelandet. Unter den Augen oder zu Füßen von Miss Molly.
2
    Der alte Amerikaner im
Albergo Fantini
. Als Marco und Julia das erste Mal dort hinkamen, war er außer ihnen der einzige Gast. Er bewohnte das Zimmer 9 im zweiten Stock, sie bewohnten das Zimmer 11. Von beiden Zimmern sah man hinüber in den
giardino
.
    Aus Zimmer 9 sah man mehr vom Garten als aus Zimmer 11. Aus dem Fenster des Zimmers, in dem Marco und Julia wohnten, sah man ja eigentlich nur das Tor. Aus dem Fenster von Zimmer 9 hatte man, was den Garten betraf, den besseren Blickwinkel. Von dort aus sah man etwas von der Geometrie der Beete, und vor allem sah man das schmale Haus in der Stadtmauer.
    Sie hatten ihn gar nicht von Beginn an bemerkt. Die ersten paar Tage, die sie in diesem etwas ramponierten, aber sympathischen kleinen Hotel verbrachten, hatten sie geglaubt, sie wären allein. Zumindest dort oben im zweiten Stock. Das war ihnen sehr recht. Da benahmen sie sich sehr unbefangen.
    Manchmal liefen sie nackt aus ihrem Zimmer zum Etagenbad, wo sie in der großen, mitten im Raum stehenden Blechwanne miteinander badeten. Und dann liefen sie, nur in Handtücher gewickelt, zurück in ihr Zimmer, in dem sie meist gleich wieder ins Bett fielen. Auch was Geräusche betraf, taten sie sich keinen Zwang an. Vor allem lachten sie viel, denn sie hatten es lustig miteinander.
    Den alten Amerikaner bemerkten sie erst nach etwa einer Woche. Schon eigenartig, dass er ihnen nicht früher aufgefallen war. Es war gegen Abend, sie kamen vom Fluss zurück, an dem sie einen heißen Nachmittag verbracht hatten, auf einem der großen, flachen Steine, auf denen sie so gern lagen. Ihre Haut glühte noch nach. Sie überquerten die Piazza. Und da sahen sie ihn zum ersten Mal dort oben am Fenster stehen.
    Schau, sagte Julia. Der alte Mann dort oben.
    Che tipo
, sagte Marco. Sieht ein bisschen aus wie der alte Hemingway.
    Das sagte Marco allerdings auf Französisch, nicht auf Italienisch und sicher nicht auf Deutsch. Französisch war die Sprache, in der sie sich anfangs am besten verständigen konnten.
3
    Marco war aus Turin, Julia aus Wien. Kennengelernt hatten sie einander in Siena. Dort hatte Julia einen Italienischkurs begonnen. Marco hatte an einem Seminar über französischen Film teilgenommen.
    Alle Filme in Originalfassung, ohne Untertitel. Aber Französisch konnte er offenbar gut. Sie konnte es weniger gut, obwohl sie es in der Oberstufe des Realgymnasiums gelernt hatte. Ihr Französisch, sagte sie mit dem Charme, der sich manchmal

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