Rittermord
als er meine Mutter und mich verließ, um mit deiner Mutter und dir zu leben, uns völlig unversorgt zurückgelassen hat«, sagte ich. »Und da meine Mutter zu vornehmtuerisch und vor allen Dingen zu faul war, um zu arbeiten, hatte ich eine kreuzbeschissene Jugend.«
Gina ließ sich auf einem geblümten Zweisitzer nieder und schlug ein Bein unter. Beinahe sah es aus, als sitze sie auf einer Frühlingswiese.
»Ob du es glaubst oder nicht, das hat deinem Vater auch weh getan«, sagte sie auf einmal sehr leise. »Besonders in seinen letzten Monaten sagte er oft, er hoffe, du würdest ihn eines Tages verstehen.«
»Den Teufel werd ich. Der Alte grämt sich gegen Lebensende ein bißchen, und damit soll alles vergeben und vergessen sein? Nee, nee, meine Liebe, so nicht. Daß er es mit meiner Mutter nicht mehr ausgehalten hat, hab ich schon als Zehnjähriger kapiert. Das war aber kein Grund, auch mich zu verlassen.«
»Du hättest doch sowieso nicht mit uns leben wollen.«
»Der Alte hätte es mir zumindest mal anbieten können.«
»Spar dir die Leier, Tom, ich kann sie nicht mehr hören«, sagte Gina. »Zumal du aus deiner Erfahrung nicht die Bohne gelernt hast. Du bist doch deiner eigenen Tochter ein größerer Rabenvater, als dein Vater es dir je war.«
»Das wirst du doch wohl nicht vergleichen wollen? Nicht ich hab Frau und Kind sitzenlassen, Margot hat mich verlassen und Jennifer mitgenommen.«
»Ich rede nicht von dem, was vor zehn Jahren war, ich rede von der Zeit seit Margots Tod. Jetzt hast du die Gelegenheit und auch die Pflicht, dich um Jennifer zu kümmern.«
»Mein Gott, erstens ist Jennifer siebzehn und kein Kind mehr. Zweitens hab ich sie nach Margots Beisetzung gefragt, ob sie zu mir kommen will, aber sie hat es vorgezogen, bei ihrem Stiefvater zu bleiben.«
Die Wolkendecke mußte aufgerissen sein, denn ein Sonnenstrahl brach sich in dem Glasascher auf dem Tisch und blendete mich. Ich kniff die Augen zusammen und ärgerte mich, daß ich morgens nur ein und nicht gleich zwei Aspirin genommen hatte.
»Hast du denn regelmäßig Kontakt zu ihr?«
»Natürlich, ihr geht’s prima.« Ich räusperte mich. »Du hast nicht zufällig ’n Bier im Kühlschrank?«
»Trinkst du jetzt schon vormittags?«
Für die Frage haßte ich sie, vor allem für den Tonfall, in dem sie sie gestellt hatte. Mit ihrem Idealgewicht, ihrem korrekten Blutdruck, ihren unbedenklichen Leberwerten und ihrem gesunden, landfrischen Teint hätte sie vom Fleck weg Reklame für Vollkornnudeln ohne Ei machen können.
»Vergiß es«, sagte ich und kämpfte mich aus dem Sessel hoch wie aus Treibsand. »Welches Zimmer kann ich haben?«
Gina erhob sich ebenfalls, reichlich verdattert. »Zimmer? Wieso Zimmer?«
»Ich bleib ein paar Tage.«
»Das ist nicht dein Ernst. Ich hab kein Zimmer frei.«
»Muß ich dich wirklich an die notariell beglaubigte Vereinbarung erinnern, nach der mein Alter und seine direkten Nachkommen – das bin ich – zeitlebens Anrecht auf ein Zimmer in diesem Haus haben?«
Wenn sie wollte, konnte sie richtig böse gucken. »Darauf willst du doch nicht etwa pochen?«
»Und ob«, sagte ich und war mir darüber im klaren, daß ich die Tür abschließen und verbarrikadieren mußte, um nicht im Schlaf erdolcht zu werden. Aber ich hatte keine Alternative.
Sie hatte natürlich gelogen, denn ein Zimmer war frei, zufällig das kleinste und schäbigste oben unter dem Dach. Nachdem ich meine beiden Koffer raufgeschafft hatte, sah ich aus dem Fenster, wie Gina über den Hof stapfte, in ihren japanischen Pritschenwagen kletterte und mit durchdrehenden Reifen davonschoß.
Keine Frage, ich war willkommen.
Kapitel 3
Seikos lügen nicht, also hatte ich keine Stunde geschlafen, als ich schweißgebadet hochschreckte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wußte, wo ich war, und noch etwas länger, bis die letzten Bilder des Albtraums verblaßt waren. Ich trank mindestens einen Liter Leitungswasser, wusch mir Gesicht und Oberkörper, zog mir ein frisches Hemd an und ging in den Garten. Inzwischen hatte die Sonne sich durchgesetzt und ließ die Erde dampfen.
Das zur Villa gehörende Terrassengelände erstreckte sich über den östlichen Teil des Stiftsbergplateaus bis zur Kirche hin. Unter dem ersten großen Baum stand eine Bank, und daneben parkte ein Rollstuhl. In dem Stuhl saß in Anorak und Decke verpackt ein blasses, vielleicht zehnjähriges Mädchen und bückte sich vergeblich nach einem Buch, das ihr runtergefallen war.
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