Rixende ... : Historischer Roman (German Edition)
die Gasse, in der sich das Lagerhaus der Fabris befand. Von Olivier Martell, dem einzigen Senator der Stadt, der der Inquisition gewogen war, wusste er, dass die junge Frau dort oft bis in die Nachtstunden über den Geschäftsbüchern saß.
Kein Lichtschein fiel aus der Schreibstube. Enttäuscht wandte er wieder um. Wie gerne hätte er gerade heute, einen Blick auf Rixende Fabri geworfen. Abbéville hatte ihm und den anderen Mönchen geraten, bis zur endgültigen Bestätigung aus Rom der sonntäglichen Messe in St. Nazaire fernzubleiben, um dann in einem triumphalen Einzug die anderen – damit waren nicht nur die Konsuln gemeint, sondern vor allem die Franziskaner - zu erniedrigen.
Es war eine sternenklare helle Nacht, der Wind der letzten Tage hatte sich endlich gelegt, und Saint-Georges beschloss, seinen trüben Gedanken bei einem Rundgang nachzuhängen, er würde ohnehin nicht schlafen können. So trat er den Heimweg durch die um diese Zeit menschenleeren Lices an. Er plauderte kurz mit den beiden Wachsoldaten an der Porte Narbonnaise und schlenderte dann weiter in Richtung Trésauturm. Ein Hund bellte in kurzen Abständen.
Plötzlich quietschte eine Tür. Das Licht einer Laterne flackerte auf. Stimmen?! Schritte?!
Saint-Georges blieb stehen und lauschte. Ja, da war es wieder. Ein Mann und eine Frau. Sie redeten leise miteinander. Ein Diebespärchen? Sollte er umdrehen und die Wachsoldaten rufen?
Doch vielleicht handelte es sich um Katharer? Ein servitium möglicherweise, fuhr es ihm durch den Kopf, ein ketzerischer Gottesdienst in einem heimlichen Verlies! Jedermann wusste, dass sich die Häretiker im verborgenen trafen. Nun, einen parfait, vielleicht sogar Authié selbst auf frischer Tat zu ertappen, würde Abbéville beweisen, dass er, Fulco, sein Amt ernst nähme, dass es ihm tatsächlich nur um diejenigen ging, die offenkundig unschuldig im Loch saßen.
Jemand lachte verhalten, dann … Eine Kinderstimme?
„Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann …“
Ein Abzählreim?
Rasch verbarg sich der Inquisitor hinter dem Mauervorsprung des Trésauturmes, wobei er um ein Haar in einen Haufen Unrat getreten wäre, denn darüber befand sich ausgerechnet die Latrinenöffnung des Turms. Es stank erbärmlich.
Einmal in der Nacht, als er als Kind im Schafstall beim alten Anatole hatte schlafen dürfen, hatte er ein ähnliches Erlebnis gehabt. Stimmen, Schritte, ein Poltern, ein leiser Aufschrei. Als er aufwachte, war Anatole nicht mehr an seiner Seite gewesen. Das kalte Mondlicht, das in den Schafstall leuchtete, die Angst, plötzlich mutterseelenallein zu sein, hatte Fulco für eine Weile gelähmt. Dann, als er merkte, dass auch die Schafe seltsam unruhig waren, hatte er sich ein Herz gefasst und ein paarmal halblaut nach dem Hirten gerufen. Doch es blökten nur die Lämmer. Da schlich er sich hinaus, um seinen besten Freund zu suchen. Gerade als er um die Stallecke bog, sah er wie ein großer dunkler Schatten vor ihm davonlief. „Anatole“, hatte er geschrien und war ihm hinterhergelaufen. Doch die Nebelgestalt war schneller gewesen und bald vom Wald verschluckt worden. Fulco war noch eine Weile umhergeirrt und dabei unsanft im Entendreck gelandet, bevor er laut heulend zum Donjon lief, um seinen Vater zu wecken. Gemeinsam mit den Knechten und Eugene hatte man den Hirten gesucht und ihn im Morgengrauen auch gefunden – dort, wo keiner ihn vermutet hatte: Er baumelte – einen dicken Strick um den Hals - am Firstbalken des niedrigen Stalls, direkt über seinen Schafen, die ihre Köpfe liebevoll an seinen Füßen rieben. Der Vater hatte drei Kreuze geschlagen und Fulco rasch die Augen zugehalten. Den dunklen Schatten, der vor ihm davongelaufen war, hatten sie seiner Angst zugeschrieben. Aber Saint-Georges war noch heute überzeugt, dass er den Mörder seines Freundes Anatole gesehen hatte. Noch lange danach war er fast jede Nacht in kalten Schweiß gebadet aus dem Schlaf geschreckt.
Mit zugehaltener Nase spähte der Inquisitor um die Ecke. Was hatte er heute nur für wunderliche Gedanken? Und wer nur machte sich dort drüben am Berardturm zu schaffen? Das war doch ... Nein, nicht möglich! Ein Mönch vom Orden des Heiligen Franziskus? Kein Zweifel, die auffällige Tonsur des Fraters leuchtete im Mondschein. Saint-Georges beobachtete gespannt, wie der Mann umständlich die Tür des Turmes zuschloss. Die Frau im dunklen Umhang neben ihm zog gerade ein Kind zu sich heran, das offenbar im Schatten
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