Rixende ... : Historischer Roman (German Edition)
Aton!“
„Nun, vor langer Zeit stand Karl der Große vor den Toren dieser mächtigen Stadt, die damals die Sarazenen besetzt hielten. Sein Plan war es, die unliebsamen Besatzer auszuhungern. Nach fünf Monaten Belagerung war es ihm aber noch nicht gelungen, auch nur einen Fuß in die Stadt zu setzen. Als die Vorräte der Eingeschlossenen zur Neige gingen, hatte die Frau des Sarazenenkönigs Balaack einen schlauen Gedanken. Sie ließ das einzige noch verbliebene Schwein mit Korn mästen und es von einem der Türme herabwerfen. Als das Schwein platzte, rieselten die Körner nur so aus ihm heraus. Karl der Große war zutiefst verwundert ob der offensichtlich unerschöpflichen Vorräte Carcassonnes und hob enttäuscht die Belagerung auf, worauf die Dame Carcas die Glocken läuten ließ! Carcas sonne!“
Rixende lachte hellauf. „Nein, nein, die Geschichte kann so nicht stimmen, Aton!“
„Wieso nicht?“
„Nun, zum einen gab es zu dieser Zeit noch keine Glocken, und zum anderen: Die Sarazenen essen bekanntlich kein Schweinefleisch, wisst Ihr das nicht? Ihr Glaube verbietet es ihnen. Sie halten es für unrein.“
Aton staunte. „Möglicherweise war Karl der Große nicht so klug, wie Ihr es seid, Rixende. Wer hat Euch solche Dinge gelehrt?“
„Bruder Paule, ein überaus belesener Mönch. Ich habe alles gelernt, was der Franziskaner den Kindern des Bürgermeisters beibrachte, denn ich gehörte zu ihnen.“
Ein heftiger Windstoß blies Rixende fast vom Pferd, als sie mit ihrer Begleitung die Porte Narbonnaise mit den beiden Fallgattern und dem Pecherker erreicht hatte. Die Fahne des Königs von Frankreich knatterte laut. Zwei Wachleute in schwarz-gelbem Wams hielten sie auf.
„Was ist Euer Begehr?“ fragten sie mit beinahe unbewegten Gesichtern, obwohl der Wind auch an ihnen und ihren überkreuzten Lanzen zerrte.
„Man erwartet die junge Dame und ihr Gefolge im Hause des ehrenwerten Castel Fabri“, sagte Aton forschen Tones und wies auf den nachfolgenden Ochsenkarren.
Die Nennung des Namens zeigte Wirkung. Sofort traten die Soldaten zur Seite.
„Reitet hinauf, geradewegs bis zum Château comtal, dem ehemaligen Schloss der Trencavel, dann wendet Euch nach links. Dort, in der Nähe des Turms der Justiz steht ein großes rotes Bürgerhaus, die Domus Fabri. Ihr erkennt es an dem markanten Pferdekopf, der es ziert.“
2
O Phantasei! Benimmst so oft die Sicht
der äußern Dinge, dass man nichts verspüret.
Dante, Die Göttliche Komödie
Das Rote Haus der Fabris war beeindruckend. Die Fassade des Erdgeschosses bestand aus Sandstein. Zwischen den vier Fenstern befand sich ein dunkles Tor, bewacht von jenem steinernen Pferdekopf. Über einer Galerie wundersam geschnitzter Sparren – Rixende erkannte Fabeltiere und lustige Köpfe – erhob sich über zwei Stockwerke ein ungewöhnlich kunstvolles Fachwerk. Die Bauleute hatten dabei die schmalen roten Ziegelstreifen Fischgräten gleich abwechselnd gegenläufig angebracht, so dass sich die unterschiedlichsten Muster ergaben.
„Ihr seid also die Tochter meiner Großnichte Alexandrine“, sagte Fabri mit einem nicht unzufriedenen Lächeln, als er das hübsche Mädchen näher betrachtete, das große Mühe hatte, seine Röcke zu bändigen, in denen sich ein tolldreister warmer Wind ständig verfing.
„Kommt herein, kommt herein! Seid willkommen in meinem Haus! Und lasst Euch einmal ansehen. Ihr seht weniger Eurer Mutter ähnlich als der schönen Schwester Eures Vaters, Béatrice.“
An die lebenslustige Béatrice konnte sich Rixende noch gut erinnern. Im Sommer vor ihrer Flucht aus Montaillou hatte man ihre Hochzeit mit Bérenger de Roquefort, einem Verwalter des Grafen von Foix, gefeiert, und Rixende hatte an diesem Tag ihre noch blutjunge Tante über alle Maßen bewundert. Sie wusste nicht, was aus ihr geworden war.
Castel Fabri geleitete das Mädchen nicht ohne Mühe wegen seines hohen Alters die fünf Stufen zum Haus hinauf, während Aton und Mengarde das Ausladen des Ochsenkarrens bewachten, das Fabris dienstbeflissene Diener besorgten.
„Der Wind ist charakteristisch für unsere Gegend, meine Liebe“, erklärte der alte Mann Rixende, als sie oben angelangt waren. „An ihn müsst Ihr Euch gewöhnen. Vom Mittelmeer her bläst der Südostwind, Marin genannt. Es gibt den Marin gras, feucht und klebrig, den Marin gris, der mildes, trübes und bedrückendes Wetter bringt, oder gar den Marin noir, mit schwarzen Wolken und starkem Regen, mitunter sogar
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