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Rot Weiß Tot

Titel: Rot Weiß Tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Salomon
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Fichtenstangen. Aus dieser Perspektive war die Figur nicht mehr zu sehen. Albin beruhigte das nicht. Im Gegenteil. Als Sarah ausstieg, folgte er ihr gegen alle seine Instinkte, außer jenem der Neugierde.
    Er sprang über die Absperrung auf den kurzen Rasen. Der Figurensockel, der außerhalb des Tores stand, war eindeutig leer. Was immer sie darüber schweben gesehen hatten, musste sich direkt im Tor befinden.
    Sarah war schon in das Kiesbett zwischen den mächtigen Säulen getreten, wo Albin sie nicht mehr sehen konnte. Er hörte nur das Knirschen ihrer Schritte und gleich darauf ihre dünne Stimme. Ihr Versuch, die Beherrschung zu bewahren, ließ sie fast gelangweilt klingen. »Albin. Hier hängt ein Mensch.«
    Sekundenbruchteile später stand er neben ihr. Ein Seil war um den Querbalken des Heidentores geschlungen. Oben lag es zwischen den Dachziegeln auf, die als Abfluss für das Regenwasser dienten. Am unteren Ende baumelte ein Mann mit dem Kopf in der Schlinge. Albin rieb sich die Augen. Sarah tastete nach seiner Hand. Irgendwo schrie eine Krähe.
    »Mein Gott«, sagte Albin.
    Der Mann trug schwarze Kleidung, das Hemd hing aus seiner Hose und einer seiner eleganten Schnallenschuhe lag unter ihm im Kies. Sein Gesicht war blau angelaufen, sein Mund offen, und Speichel rann über sein Kinn. Als hätte er sich mit Gel eine Punkfrisur geformt, stand sein Haar nach allen Seiten weg. Seine weit aufgerissenen Augen starrten ins Nichts.
    »Wir müssen etwas tun.« Albins Stimme klang heiser. Hilflos sah er sich nach allen Seiten um.
    »Er ist tot«, sagte Sarah trocken.
    »Er könnte noch leben.«
    »Er hängt ganz still.«
    Hektisch strich sich Albin die Haare aus der Stirn. Er bemerkte, dass die hölzerne Umgrenzung auf der anderen Seite des Heidentores durchbrochen war. Jemand hatte eine Fichtenstange herausgerissen und so eine Einfahrt von einem mit grobem Schotter aufgeschütteten Besucherparkplatz geschaffen.
    Albin rannte zum Wagen und fuhr ihn im Rückwärtsgang unter das Tor. Beinahe wäre er in eine begehbare Mulde mit Bildtafeln über die Geschichte des Denkmals gekracht. »Er ist tot«, rief Sarah. Diesmal klang es fast vorwurfsvoll.
    Albin wollte davon nichts hören. Er stellte den Wagen genau unter den Gehängten. Beim Erklettern des Autodaches rutschte er mit dem Fuß von der Stoßstange und schlug sich das Knie am Verschluss des Kofferraumdeckels an. Mit beiden Händen zog er sich wieder hoch und stellte sich mit gespreizten Beinen auf das Dach, ganz außen, wo ihn der Rahmen des Autos trug.
    »Er ist tot«, hörte er abermals Sarahs Stimme.
    Albin fluchte. Er wusste nicht weiter. Er hatte kein Messer zum Durchschneiden des Stricks dabei. Selbst wenn, hätte es ihm nicht geholfen. Er reichte kaum bis zu dem Hals des leblosen Fremden und hätte ihm beim Durchsäbeln des Stricks wohl die Kehle aufgeschlitzt. So schlang er nur die Arme um den Mann und hob ihn hoch, um seinen Hals vom Gewicht des Körpers zu befreien.
    »Er ist tot«, sagte Sarah, diesmal leiser. Jetzt schwang Mitleid in ihrer Stimme. Es galt nicht dem reglosen Mann, sondern Albin.
    Dem dämmerte, dass diese Augenblicke vielleicht jahrelang nicht mehr aus seinem Bewusstsein zu wischen sein würden. Vor allem, weil Sarah auch dieses Mal Recht hatte: Er kam zu spät. Er begriff es bei der ersten Berührung mit dem Erhängten. Der Geist hatte den noch warmen Körper eben verlassen. Er war zu spät gekommen, wenn auch nur um wenige Augenblicke.
    Vorsichtig ließ Albin die Leiche wieder los. Als er resigniert von dem schaukelnden Auto sprang, pendelte sie über ihm hin und her. Warum passierte so etwas ausgerechnet ihm? »Mein Gott«, sagte er noch einmal.
    »Was sollen wir tun?«, fragte Sarah.
    »Abhauen.«
    »Und ihn wie eine Vogelscheuche hängen lassen?«
    »Natürlich nicht.« Es war Albins erster Impuls gewesen, kein ernst gemeinter Vorschlag.
    »Es war Mord«, sagte Sarah langsam.
    Albin sah sich um. In der Ferne glitt die blauweiße Schnellbahn vorbei, deren Gleise über weite Strecken der Bundesstraße folgten. Nur ein paar Bäume und ein Hochsitz erhoben sich über die Äcker. Weit und breit war niemand zu sehen. Der Mörder war wohl in dem dunklen Wagen abgehauen. »Es sieht wie Mord aus«, bestätigte er.
    Albin fragte sich, ob auf dem Hochsitz ein Scharfschütze postiert sein könnte. Vielleicht ging auch nur seine Phantasie mit ihm durch. Für alle Fälle zog er Sarah auf die andere Seite der Mauer. Dort waren sie auch vom Anblick

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