Rotglut
versetzen, wenn sie sich von hinten anschlich. Dann konnte Jule ihre Adrenalin-Depots auch noch etwas aufstocken.
In halbgebückter Haltung kroch sie aus dem Rhododendron, richtete sich auf und trat noch ein paar Schritte rückwärts, den Hals gereckt, um Jule auf dem Weg zu erspähen. Plötzlich strauchelte sie, fing sich einen Moment lang und kam dann doch zu Fall. Sie stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus.
›Scheiße, mein Fuß!‹, fuhr es ihr durch den Kopf. Frauke setzte sich auf und rieb sich den Knöchel. Wohl nicht gebrochen, aber mindestens eine leichte Bänderdehnung, so ihre Eigendiagnose. Mühsam rappelte sie sich wieder auf. Erst jetzt erkannte sie, über was sie da gestolpert war. Neben ihr, direkt vor dem Hermann-Löns-Stein, lag ausgestreckt ein Mann, ein alter Mann.
»Frauke, was ist los, was plärrst du denn da rum?« Jule stakste besorgten Blickes um den Busch herum, vier Stöcke schwingend.
»Jetzt guck dir den mal an, der hat wohl während des Spiels zu tief ins Glas geschaut.« Frauke wies mit dem ausgestreckten Finger auf die Person vor dem Stein. Beinahe verschmolz die Gestalt mit dem Findling. Stein und Mann, beide grau, rissig, verwittert, leblos.
Die beiden Frauen standen etwas ratlos da, keine wagte es zunächst, sich dem Liegenden zu nähern.
Jule reagierte als Erste.
»Da stimmt was nicht, so liegt kein Besoffener da. Hallo, Sie, können Sie mich hören, fehlt Ihnen was?«, rief sie der Gestalt am Boden zu. Nichts.
»Lass das doch, ich bin sicher, der schläft seinen Rausch aus, nachher wird er noch sauer, weil du ihn geweckt hast.« Frauke rieb sich noch immer ihren schmerzenden Knöchel und verzog das Gesicht.
»Guck mal, wie der Hals und die Beine verdreht sind, so liegt doch kein Mensch da, der nur betrunken ist und schläft. Hallo, Sie da! Ist Ihnen übel, sollen wir Hilfe holen?« Vorsichtig näherte sich Jule der Gestalt, stieß sie sacht mit dem Stock in die Seite.
»Du großer Gott, schau dir das an, sein Gesicht ist ja grau wie der Stein, ich glaub, der atmet nicht mehr.« Dann sah sie den dunklen Fleck, der sich unter dem Kopf des Mannes gebildet hatte. Blut.
Erschrocken sprang sie zurück. Der Mann hatte sich bewegt. Leicht drehte er den Kopf, konnte die Augen jedoch nicht öffnen. Er stöhnte. Seine Haare standen am Hinterkopf ab, bizarr, wie ein kleiner Propeller. Blutverklebt.
Jule beugte sich zu ihm hinunter. Wie war das noch mal mit der stabilen Seitenlage? Der alte Mann musste einen Schwächeanfall erlitten haben und dann mit dem Kopf an den Stein geknallt sein. Die Alten trinken ja auch nichts, und wenn es noch so heiß ist. War wahrscheinlich vollkommen dehydriert, der Arme. Vielleicht half ihm ein Schluck aus einem der Depotfläschchen. Sie löste eine Flasche aus dem Gürtel – Wasser, in dem sie eine Magnesium-Tablette aufgelöst hatte –, fasste um den Kopf des Mannes, um ihn etwas anzuheben. Sie erstarrte. Ihre Finger hatten eine breiartige Masse ertastet. Jule konnte sich gerade noch bremsen, den Kopf wieder loszulassen. Bestimmt kam das breiige Gefühl von dem vielen Blut. Das Gesicht des Mannes wandte sich ihr weiter zu und sie hörte, wie Frauke einen spitzen Schrei ausstieß.
»Was?«, herrschte sie ihre Freundin an, die blass und zitternd danebenstand.
»Sieh doch, sein Schädel!«, war alles, was Frauke hervorbrachte.
Jule beugte sich dichter über den Mann, und nun konnte auch sie die klaffende Wunde sehen. Und es war nicht nur Blut, was sie unter ihren Fingern spürte, sondern auch Hirnmasse, wie ihr schaudernd bewusst wurde.
»Frauke«, krächzte sie, »ruf sofort einen Notarzt. Hier ist irgendwas Schlimmes passiert. Sie sollen sich beeilen.«
Der Mann öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte, doch kein Ton kam heraus. Er stöhnte wieder.
»Bleiben Sie ganz ruhig, ein Krankenwagen ist bereits unterwegs. Können Sie mich verstehen? Alles wird gut.«
Jule kauerte neben dem Mann, immer noch hielt sie seinen Kopf und wunderte sich, dass ihr nicht schlecht wurde. Hitze strahlte von dem Körper des Mannes aus, als hätte er hohes Fieber. Umso erschrockener war sie, als der Mann plötzlich ihren Arm fasste und sie zu sich herabzog. Wieder versuchte er zu sprechen. Doch mehr als ein Flüstern schaffte er nicht.
»Fuchs. Kein französischer Fuchs.« Er hustete. Winzige blutige Speicheltröpfchen trafen Jules Gesicht. Sie widerstand dem Impuls, den Mann loszulassen und sich das Gesicht abzuwischen. Die wenigen Worte hatten
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