Rubinrotes Herz, eisblaue See
aus wie Sommersprossen. Kirchtürme aus Algen reckten sich zum Licht. Sie schimmerten in den diffusen Sonnenstrahlen, und Bud und ich schlängelten uns zwischen ihnen hindurch. Ein olivgrüner Krebs verschwand im Rückwärtsgang unter einem Felsen, und zwei kleine silbrige Fische schwammen an uns vorbei. Der weiße Bauch einer Flunder blitzte auf, als sie davonglitt.
Als eine besonders kalte Strömung meine brennenden Lungen umschloss, zog ich an Buds Hand, und wir stiegen wieder auf. Ich packte das Tau und rang gierig nach Luft. Meine salzgetränkten Augen brannten, und die Welt war verschwommen, doch nach ein paarmal Blinzeln sah ich wieder klar.
»Noch mal?«, fragte Bud.
Doch Madeline rief uns zu, wir sollten sofort zum Strand zurückkommen, sonst gäbe es Ärger, also schwammen wir wieder um die Wette. Diesmal war ich Erste, aber ich glaube, Bud ließ mich gewinnen.
Den Rest des Nachmittags verbrachte ich bei Grand. Wir setzten uns auf die Veranda, strickten und lasen, bis Daddy heimkam. Wir aßen zu Abend, und um neun ging ich ins Bett. Beim Einschlafen dachte ich an Carlie. Ob sie schon die Überraschung gekauft hatte, die sie mir mitbringen wollte? Ich fragte mich, was es wohl sein mochte.
Als das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen. Ich sah zu Micky hinüber. Es war halb elf. Immer noch Mittwoch, der 7. August 1963. Ich hörte, wie Daddy aus seinem Sessel im Wohnzimmer aufstand, durch die Küche zum Wandtelefon ging und sich räusperte. Hörte das Krachen eines Baseballschlägers und den Jubel der Zuschauer im Fernsehen. Hörte, wie Daddy sagte: »Nein, bei mir hat sie sich nicht gemeldet. Warum?«
6
Crow’s Nest Harbor lag ungefähr drei Stunden entfernt die Küste hinauf. Von Carlies Beschreibung wusste ich, dass es eine Touristenstadt an einer Bucht war, neben der unser kleiner Hafen wie eine Pfütze aussah. Carlie und Patty waren jeden Sommer für ein paar Tage dorthin gefahren, seit ich alt genug war, ihnen nachzuwinken. Sie wohnten immer im Crow’s Nest Harbor Motel, ein kleines Stück abseits der Hauptstraße und nicht weit von der Bucht entfernt. Von den Postkarten, die Carlie mir jedes Jahr geschickt hatte, wusste ich, dass das Motel einen Swimmingpool und hübsche, helle Zimmer besaß. Carlie hatte mir versprochen, mich mitzunehmen, wenn ich ein bisschen älter wäre.
Der Anruf kam von Patty. Sie erklärte Daddy, sie und Carlie hätten gegen zehn zusammen im Motel gefrühstückt, dann habe Carlie gesagt, sie wolle in die Stadt, zu einem Kleiderladen, wo sie am Dienstag etwas für mich entdeckt hätte. Es könnte eine Weile dauern, aber am frühen Nachmittag wäre sie zurück.
Patty legte sich mit einem Buch an den Pool, las, schwamm ein wenig und schlief in der Sonne ein. Als sie aufwachte, beschloss sie, in der Stadt zu Mittag zu essen; vielleicht würde sie Carlie ja irgendwo treffen. Doch sie sah sie nicht, und so ging sie zurück ins Motel, um dort zu warten. Um fünf fing sie an zu überlegen, ob sie vielleicht etwas falsch verstanden hatte, und machte sich noch einmal auf den Weg in die Stadt. Sie ging zu dem Kleiderladen und fragte die Verkäuferin nach Carlie. Ja, sie war hier gewesen, aber vormittags, so gegen elf. Bis sieben Uhr lief Patty durch die Straßen und hielt nach ihr Ausschau, dann kehrte sie zum Motel zurück. Um halb elf, als Carlie immer noch nicht aufgetaucht war oder sich gemeldet hatte, beschloss Patty, Daddy anzurufen.
Das war die Geschichte, wie Daddy sie später allen erzählte. Während er telefonierte, hatte ich die Besorgnis in seiner Stimme gehört, deshalb stand ich auf und ging zu ihm in die Küche.
»Wenn du was von ihr hörst, sag ihr, sie soll mich anrufen«, sagte Daddy und legte auf. Er stützte sein stoppeliges Kinn in die Hand und sah mich an. »Wieso bist du auf?«
»War das Carlie?«, fragte ich.
»Nein. Das war Patty.«
»Wo ist Carlie?«
»Gute Frage«, sagte er. Als er meinen Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: »Ach, du kennst doch deine Mutter. Manchmal macht sie ihre Extratouren. Wahrscheinlich hat sie bloß vergessen, Patty Bescheid zu sagen. Ich bin sicher, Carlie meldet sich morgen früh bei uns.«
Er sagte, ich solle wieder ins Bett gehen, das würde er jetzt auch tun. Ich tat es, stand aber kurz danach wieder auf und tapste zum Schlafzimmer.
»Daddy?«
»Geh wieder ins Bett, Florine«, sagte er, setzte sich jedoch auf und schaltete die kleine Nachttischlampe ein. Er fuhr sich durchs Haar und stand auf. Er hatte
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