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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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den Abend fest vor. Und wenn er vorher noch eine Mütze Schlaf fand, dann war er wieder ganz der Alte.
    Entschlossen zerknüllte er die Pappscheibe mit den Ketchup- und Senfresten und stopfte sie in einen Papierkorb. Er schulterte die Kamera und warf einen Blick in die Runde, auf der Suche nach einem möglichst weihnachtlichen Motiv. Menschen mit Pudelmützen, eine Familie mit Einkaufstüten, geschmückte Schaufenster, Kerzenschein, der sich im Eis am Straßenrand spiegelte, solche Dinge eben.
    Die alte Frau sah er zu spät. Sie löste sich aus einem Pulk Japaner, die auf den Displays ihrer Digitalkameras dem im Bombenhagel zerstörten Turm der Gedächtniskirche nachforschten, und ragte urplötzlich vor ihm auf.
    Es war die gleiche verstörende Gestalt, die er vorhin beim Verlassen der U-Bahn-Station bemerkt hatte. Jetzt sah er sie aus nächster Nähe. Sie war alt. Uralt. Ihr Gesicht war eingefallen, voller Falten und Runzeln, in denen sich das Leben verewigt und der Tod bereits erste Spuren hinterlassen hatte. Ihre Augen lagen blind in den Höhlen, trotzdem griff sie zielsicher nach ihm.
    Er wich einen Schritt zurück, nicht weil er befürchtete, sie würde ihm ernsthaft Schaden zufügen, nicht diese dürre Greisin. Mit einer einzigen Bewegung seiner Hand konnte er sie jederzeit in den Rinnstein stoßen und ihr dabei wahrscheinlich sämtliche Knochen im Leib brechen. Was er fürchtete, war, von ihr berührt zu werden. Es musste sich anfühlen, als wenn der Tod einen streifte.
    Mit diesem Gedanken setzte er ein weiteres Mal zurück. Viel zu hastig diesmal. Hart prallte er mit der Schulter gegen einen der Wurstverkäufer. Der Mann brüllte wütend auf, weil Thüringer vom Rost kullerten und schmatzend auf die Pflastersteine plumpsten. Fußgänger hielten neugierig inne.
    Philip blieb wie angewurzelt stehen und wusste nicht, was er tun sollte. Bloß keinen Tumult provozieren, nicht auch noch das. Er sah sich nach einer anderen Ausweichmöglichkeit um, erfolglos. In dieser Sekunde spielte das Schicksal – wie so oft heute – gegen ihn. Eine vielköpfige Familie trat rechts neben ihn und sortierte mit unendlicher Geduld die Einkaufstüten. Links zog ein Trupp Touristen schnatternd an ihm vorbei. Hinter ihm maulte der Wurstverkäufer: »Das zahlst du mir, Bürschchen, dafür will ich Schadenersatz.«
    Vor ihm bewegte die alte Frau die gichtgelben Hände unablässig auf ihn zu. Eine Berührung war unvermeidlich. Bei dem Gedanken, die kranken Finger auf seiner Haut zu spüren, drängte sich die Bratwurst wieder die Kehle empor. Als hätte ich heute nicht schon genug von mir gegeben.
    Aber das konnte die Alte natürlich nicht wissen und rückte näher heran. Etwas an ihr machte ihn stutzig. Doch bevor er den eigentümlichen Gedanken richtig greifen konnte, hatte er sich ihm schon wieder entwunden. Seine Nase lenkte die Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Die Frau stank. Nicht wie gammliger Fisch oder faule Eier, wie es Obdachlose häufig taten, sondern als sei irgendwas in ihr verrottet. Als sei sie tot, bloß dass sie es noch nicht wusste. Ihre Lippen bebten, sie rang nach Luft, dann stieß sie mit einer Dampfwolke, als sei es zugleich ihr letzter Atemzug, keuchend hervor: »Die Zeit ist gekommen…«
    Ihre rauen Fingerspitzen berührten seine Wange, nur für den Hauch einer Sekunde, und überraschenderweise fühlte es sich nicht unangenehm an, vielmehr zart und liebevoll. Aber das nahm er kaum mehr zur Kenntnis. Ein Autofahrer auf dem Ku’damm hupte zornig. Philip erwachte aus seiner Starre. In der Tat, die Zeit ist gekommen. Zeit zum Abhauen. Er stand alleine auf weiter Flur. Die Familie war längst mit ihren Weihnachtseinkäufen weiterspaziert, die Touristen irgendwohin verschwunden. Der Wurstverkäufer füllte schimpfend den Grillrost mit Bratwürsten auf.
    Philip drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon. Natürlich folgte ihm die Frau nicht, ihre brüchigen Knochen konnten niemals Schritt mit ihm halten, trotzdem riskierte er keinen Blick zurück.
    Auf dem Weg zur U-Bahn-Station am Nollendorfplatz, ein Stück weiter den Kudamm rauf, beruhigte Philip sich allmählich. Er schüttelte die Berührung ab, wie man eine lästige Fliege von der Schulter scheucht. Ein schaler Nachgeschmack blieb dennoch. Ein Gefühl. Etwas an dieser obdachlosen Frau war sonderbar gewesen. Nicht ihr heruntergekommenes Aussehen, auch nicht ihr Alter. Etwas anderes. Bloß was? Er rief sich die Begegnung mit ihr noch einmal vor Augen. Die

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