Ruf der Toten
zum ersten Mal fest: Der Vatikan war groß. Um nicht zu sagen, riesig.
Obwohl sich lediglich über einem halben Quadratkilometer erstreckend, konnte man sich, wenn man nicht Obacht gab, in den endlosen Gängen verlaufen. Womit allerdings nicht die Flure in den vatikanischen Museen gemeint waren, die der gewöhnliche Tourist entlang unmissverständlicher Beschilderungen abschreiten durfte, sondern vielmehr das verwirrende Geflecht aus Gängen im Gouverneurspalast, dem enormen Verwaltungszentrum, das in den weit verzweigten, den Besuchern verwehrten Gärten im Nordwesten der Vatikanstadt lag.
»Pater Silvano«, rief ihn ein Prälat, der entgegenkam. »Hätten Sie einige Minuten die Güte, mir…«
Pater Silvano schenkte auch ihm keine Beachtung und zog mit wehendem Umhang vorbei. Hätten die beiden sich nicht im sauber gefegten Nordflügel des Vatikans getroffen, sondern auf einem staubigen Feldweg in einer Provinz wie zum Beispiel der, in der Silvano zu Beginn seiner Laufbahn Gemeindedienst verrichtet hatte, wahrscheinlich wäre der Prälat hustend in einer Wolke aus Sand und Dreck versunken. So aber blickte er dem Padre nur kopfschüttelnd hinterher, lauschte dem sich entfernenden Klappern noch, als dieser längst um eine Ecke verschwunden war.
Silvano beschleunigte seine Schritte, stieg Treppen empor, durchquerte Hallen, passierte Skulpturen und Gemälde, stolperte Stufen hinab, umrundete Marmorsäulen, folgte den Fluren. Ein Portal reiht sich hier an das andere, das nächste reichhaltiger mit Ornamenten verziert als das vorherige. Ob jemand wirklich wusste, was sich alles hinter diesen Toren verbarg? So viele Geheimnisse, die hier noch in der Dunkelheit schlummerten, vor langer Zeit abgelegt und dann vergessen, weil der einstige Hüter starb und sein Nachfolger bereits neue Geheimnisse bewahrte.
Deshalb türmten sich die Sehenswürdigkeiten nicht nur in den Bibliotheken und Museen, sondern auch in anderen Räumen, die abgeschieden von der Öffentlichkeit – und auch einem Großteil der Bediensteten – lagen. Hier verstaubten sie, und ihr Glanz verblasste, strahlend hell wäre er jedoch, sollten sie das Licht der Öffentlichkeit jemals wieder erblicken.
Pater Silvano war nur ein kleines Licht, ein Rädchen im Getriebe der Macht. Er hatte es nie weit gebracht, nur zu einem Padre in einer kleinen Gemeinde in der Provinz Belluno. Dort geschah nicht viel, außer, dass die Menschen älter wurden und der Nachwuchs das Dorf verließ, weil es in der Stadt Arbeit gab, nicht auf dem Land, wo Bauern die Felder bestellten, ohne zu wissen, was der nächste Tag ihnen bringen würde.
Als man ihn vor vierzig Jahren nach Rom berufen hatte, war die Hoffnung, an seiner kläglichen Situation könnte sich etwas ändern, gering gewesen. So wie seine Kirchenkarriere begonnen hatte, in einem staubigen Nest von Belluno, würde sie auch enden – im staubigen Keller des Vatikans. Man hatte ihm mitgeteilt, seine neue Aufgabe bestände in der Verwaltung der Asservatenkammer im Gouverneurspalast. Welch eine Schmach! Denn ›Asservatenkammer‹ war reine Schmeichelei. Die zahlreichen Kellerräume waren eine Abstellkammer für klerikalen Schrott, der keine Verwendung mehr bei Hochämtern und Messen finden würde. Und trotzdem wurde er aufbewahrt und Silvano dazu bestimmt, ihn zu hegen und zu pflegen.
Dann war eines Tages Bischof de Gussa gekommen. Er hatte Silvano in die eigentliche Aufgabe eingewiesen, während er von den Freunden sprach. Silvano bekam sie zwar nie zu Gesicht, aber, so hatte de Gussa ihn wissen lassen, sie waren stolz auf den Pater aus Belluno, der fortan seine Zeit und Kraft für sie opferte. Silvano fühlte sich geehrt. Endlich hatte man seine Talente erkannt, endlich wusste man seine Loyalität zu Rom zu schätzen. O ja, Freunde waren sie, hätten sie ihn sonst mit einer so wichtigen Aufgabe im Vatikan betraut? Und wichtig musste sie sein. Immerhin hatten sie den Auftrag mit der Bedingung absoluter Verschwiegenheit verknüpft.
Am heutigen Morgen fiel es ihm schwer, Haltung zu bewahren. Mag sein, dass seine Eile völlig unangemessen war. Schließlich hatten sie ihm wiederholt prophezeit, es würde irgendwann passieren. Sie wussten zwar nicht, wann, aber sie wussten, dass es geschehen würde.
Doch jetzt, wo die Zeit gekommen war, konnte er einfach nicht anders reagieren. Es war so ungeheuerlich, dass er alle Würde vergaß, die an diesem Ort normalerweise unerlässlich war, und er rannte, bis der Schweiß von seiner
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