Ruf mich bei Deinem Namen
Wohnzimmer und ließ die Terrassentüren offen, damit er hören konnte, wie ich das Stück auf dem Klavier spielte. Er ging mir ein Stück weit nach
und blieb dann, an den hölzernen Türrahmen gelehnt, lauschend stehen.
»Du hast es verändert. Es ist nicht dasselbe. Was hast du gemacht?«
»Ich habe es nur so gespielt, wie Liszt es gespielt hätte, wenn er sich einen Jux damit hätte machen wollen.«
»Also jetzt spiel es bitte noch mal, sei so gut.«
Seine geheuchelte Ungeduld machte mir Spaß. Ich fing noch einmal an.
Nach einer Weile: »Nicht zu fassen – das klingt ja wieder anders!«
»Nicht sehr. So hätte Busoni es gespielt, wenn er Liszts Version verändert hätte.«
»Kannst du nicht einfach den Bach so spielen, wie Bach ihn geschrieben hat?«
»Aber Bach hat nie für die Gitarre geschrieben und dieses Stück vielleicht nicht mal fürs Cembalo. Streng genommen wissen wir noch nicht mal genau, ob es von Bach
ist.«
»Schon gut, vergiss es.«
»Okay okay, reg dich nicht auf«, sagte ich, meinerseits widerstrebende Zustimmung mimend. »Hier kommt der Bach, transkribiert von mir, ohne Busoni und Liszt. Ein sehr
früher Bach, seinem Bruder gewidmet.«
Ich wusste genau, welche Passage ihn so angerührt hatte, und schickte sie ihm nun jedes Mal als kleines Geschenk, eine lange Kadenz nur für ihn.
Wir hatten uns – und er muss die Zeichen lange vor mir erkannt haben – auf einen ausgewachsenen Flirt eingelassen.
Abends schrieb ich in mein Tagebuch: Ich dachte, du kannst es nicht leiden, habe ich gesagt und gemeint: Ich dachte, du kannst mich nicht leiden. Ich
hoffte, du würdest mich vom Gegenteil überzeugen, und vorübergehend hast du das ja auch geschafft. Warum werde ich dir das morgen früh nicht mehr glauben?
Auch so kann er also sein, sagte ich mir, nachdem ich erlebt hatte, wie er von Eiszeit auf Sonnenglut umgeschaltet hatte.
Genauso gut hätte ich fragen können: Schalte ich ebenso hin und her?
P.S. Wir sind nicht für ein einziges Instrument komponiert – ich bin es nicht, und du bist es auch nicht.
Ich war bereit gewesen, mich damit abzufinden, dass er schwierig und unnahbar war und ich ihn ein für allemal würde abschreiben müssen. Zwei Worte von ihm – und mein
apathisches Schmollen hatte sich gewandelt in ein Ich spiele alles für dich, bis du sagst, ich soll aufhören, bis es Zeit zum Mittagessen ist, bis meine Finger
bluten, weil ich so gern etwas tun möchte, weil ich alles für dich tun würde, sag nur ein Wort, ich mochte dich von Anfang an, und auch wenn ich mir mit neuerlichen
Annäherungsversuchen nur eisige Kälte einhandle, werde ich nie vergessen, dass wir dieses Gespräch hatten und dass es gar nicht so schwer ist, im Schneesturm den Sommer
zurückzuholen.
Dabei vergaß ich allerdings zu vermerken, dass klirrende Kälte und Apathie die unangenehme Eigenschaft haben, auf der Stelle alle in sonnigeren Momenten abgeschlossenen
Waffenstillstandsverträge und guten Vorsätze zunichte zu machen.
Dann kam jener Sonntagnachmittag im Juli, als unser Haus sich unvermittelt leerte und wir allein zurückblieben, jener Nachmittag, an dem mir Feuer durch den Leib schoss – denn
»Feuer« war der erste und unkomplizierteste Begriff, der mir einfiel, als ich am gleichen Abend beim Tagebuchschreiben versuchte, mir über den Vorfall Klarheit zu verschaffen. Ich
hatte in meinem Zimmer gewartet, in einem trancegleichen Zustand von Schrecken und Vorfreude an mein Bett gefesselt. Das war kein Feuer der Leidenschaft, kein Verheerungen anrichtender Brand,
sondern lähmend wie das Feuer von Streubomben, die den Sauerstoff um sich herum ansaugen, so dass du nur noch nach Luft schnappst, denn du hast einen Tritt in den Bauch bekommen, ein Vakuum
hat dein Lungengewebe zerfetzt und deinen Mund ausgetrocknet – und du kannst nur hoffen, dass niemand dich anspricht, weil du kein Wort herausbringen könntest, und du kannst nur
beten, dass niemand sagt, du sollst dich bewegen, weil dein Herz verstopft ist und so rasend schnell schlägt, dass es eher zerspringen als Blut durch seine verengten Kammern pumpen würde.
Feuer im Sinne von Angst, von Panik, noch eine Minute, und ich sterbe, wenn er nicht bei mir klopft, aber besser, er klopft nie als gerade jetzt. Ich hatte mir angewöhnt, meine Balkontür
angelehnt zu lassen und mich nur in der Badehose aufs Bett zu legen, mein ganzer Körper eine einzige Flamme, ein Flehen, bitte, bitte sag mir, dass ich mich irre, sag mir,
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