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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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2001
    Zwei Tage lang hatte er wie tot auf seinem Büffelledersofa gelegen. Dann stand er auf, duschte ausgiebig, um auch den letzten Partikel Krankenhausluft von sich abzuwaschen, und fuhr nach Neuendorf.
    Er fuhr die A 115, wie immer. Schaute hinaus in die Welt. Prüfte, ob sie sich verändert hatte. Und – hatte sie?
    Die Autos kamen ihm sauberer vor. Sauberer? Irgendwie bunter. Idiotischer.
    Der Himmel war blau, was sonst.
    Der Herbst hatte sich eingeschlichen, hinterrücks. Tupfte kleine gelbe Markierungen in die Bäume. Es war inzwischen September geworden. Und wenn er am Samstag entlassen worden war, musste heut Dienstag sein. Das Datum hatte er während der letzten Tage verloren.
    Neuendorf besaß neuerdings eine eigene Autobahnabfahrt – «neuerdings» hieß für Alexander immer noch: nach der Wende. Man kam direkt auf die Thälmannstraße (hieß immer noch so). Die Straße war glatt asphaltiert, rote Fahrradstreifen zu beiden Seiten. Frisch renovierte Häuser, wärmegedämmt nach irgendeiner EU-Norm. Neubauten, die aussahen wie Schwimmhallen: Stadtvillen nannte man das.
    Aber man brauchte nur einmal links abzubiegen und ein paar hundert Meter dem krummen Steinweg zu folgen, dann noch einmal links – hier schien die Zeit stillzustehen: eine schmale Straße mit Linden. Kopfsteingepflasterte Bürgersteige, von Wurzeln verbeult. Morsche Zäune und Feuerwanzen. Tief in den Gärten, hinter hohem Gras, die toten Fenster von Villen, über deren Rückübertragung in fernen Anwaltskanzleien gestritten wurde.
    Eins der wenigen Häuser hier, die noch bewohnt waren: Am Fuchsbau sieben. Moos auf dem Dach. Risse in der Fassade. Die Holunderbüsche berührten schon die Veranda. Und der Apfelbaum, den Kurt immer eigenhändig beschnitten hatte, wuchs kreuz und quer in den Himmel, ein einziges Gewirr.
    Das «Essen auf Rädern» stand schon in der ISO-Verpackung auf dem Zaunpfeiler. Dienstag, fand er auf der Packung bestätigt. Alexander nahm die Packung und ging hinein.
    Obwohl er einen Schlüssel hatte, klingelte er. Testen, ob Kurt aufmachte – sinnlos. Ohnehin wusste er, dass Kurt nicht aufmachen würde. Aber dann hörte er das vertraute Quietschen der Flurtür, und als er durch das Fensterchen schaute, erschien Kurt – wie ein Geist – im Halbdunkel des Vorraums.
    – Mach auf, rief Alexander.
    Kurt kam näher, glotzte.
    – Mach auf!
    Aber Kurt rührte sich nicht.
    Alexander schloss auf, umarmte seinen Vater, obwohl ihm die Umarmung seit langem unangenehm war. Kurt roch. Es war der Geruch des Alters. Er saß tief in den Zellen. Kurt roch auch gewaschen und zähnegeputzt.
    – Erkennst du mich, fragte Alexander.
    – Ja, sagte Kurt.
    Sein Mund war mit Pflaumenmus verschmiert, der Morgendienst hatte es wieder mal eilig gehabt. Seine Strickjacke war schief geknöpft, er trug nur einen Hausschuh.
     
    Alexander machte Kurts Essen warm. Mikrowelle, Sicherung einschalten. Kurt stand interessiert daneben.
    – Hast du Hunger, fragte Alexander.
    – Ja, sagte Kurt.
    – Du hast immer Hunger.
    – Ja, sagte Kurt.
    Es gab Gulasch mit Rotkohl (seit Kurt sich an einem Stück Rindfleisch einmal fast tödlich verschluckt hatte, wurde nur noch Kleinteiliges bestellt). Alexander brühte sich einen Kaffee. Dann nahm er Kurts Gulasch aus der Mikrowelle, stellte es auf die Igelit-Decke.
    – Guten Appetit, sagte er.
    – Ja, sagte Kurt.
    Begann zu essen. Eine Weile war nur Kurts konzentriertes Schniefen zu hören. Alexander nippte an seinem noch viel zu heißen Kaffee. Sah zu, wie Kurt aß.
    – Du hast die Gabel falsch herum, sagte er nach einer Weile.
    Kurt hielt einen Augenblick inne, schien nachzudenken. Aß dann aber weiter: Versuchte, das Stück Gulasch mit dem Gabelstiel auf die Messerspitze zu schieben.
    – Du hast die Gabel falsch herum, wiederholte Alexander.
    Er sprach ohne Betonung, ohne mahnenden Unterton, um die Wirkung der reinen Begriffe auf Kurt zu testen. Keine Wirkung. Null. Was ging in diesem Kopf vor? In diesem immer noch durch einen Schädel von der Welt abgegrenzten Raum, der immer noch irgendeine Art Ich enthielt. Was fühlte, was dachte Kurt, wenn er im Zimmer umhertapste? Wenn er vormittags an seinem Schreibtisch saß und, wie die Pflegerinnen berichteten, stundenlang in die Zeitung starrte. Was dachte er? Dachte er überhaupt? Wie dachte man ohne Worte?
    Kurt hatte endlich das Gulaschstück auf die Messerspitze geladen, balancierte es jetzt, schon zitternd vor Gier, zum Mund. Absturz. Zweiter

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