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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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mit seinen Händen, die noch zitterten, und da hob sie plötzlich die Arme und küßte ihn. Die beiden Küchenfrauen sahen neugierig herüber. Sie schob ihn dann zurück, öffnete die Tür, drängte ihn hinaus. Er fand sich auf der Straße, hinter ihm klirrte die Türkette. Kleinschmidt war schon ein Stück vorausgegangen. Da ging auch er.
    Sie schlugen den Weg zum Schacht ein, es war kurz nach Mittag, und die Wolkendecke war jetzt endgültig zerrissen. Loose sah sich noch einmal um, aber es folgte ihnen niemand.
    Christian dachte: Das hätte auch ganz anders kommen können, und ich hätte es wahrscheinlich nicht getan. Er gestand sich aber, daß Loose imponiert hatte. Er greift einfach zu, dachte er. Und das hinterläßt zumindest Eindruck.
    Der Wind hatte sich völlig gelegt, und die grauen Wölkchen segelten sehr hoch und sehr langsam über den Bahnhofsvorplatz. Inzwischen hatte auch der Plakatmaler sein Werk vollendet, es roch beißend nach Nitrolack. Das fängt ja gut an, dachte Loose. Das fängt ja ganz gottverdammt großartig an. Er ging neben Kleinschmidt her, und sie gingen an der Bretterwand entlang, bergwärts, da blieb alles hinter ihm zurück. Bis auf die Inschrift, die sahen sie noch lange, weiß und als sei sie für alle Zeiten geschrieben: ES LEBE DIE DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK.

|38| II. Kapitel
    Das Dorf war so: Seitental, das von einem Haupttal abzweigt, bewaldete Mulden zwischen drei Bergen. Entscheidend war das Haupttal, die Bahnlinie war dort und die Fernverkehrsstraße und auch der Bach, von dem alle Namen kommen. Langenbach einerseits, andererseits Zweibrücken. Durch Bermsthal zog ein bescheidener Zufluß, das Dorf lag rechtwinklig zum Haupttal, es lag mit Bahnhof und Papierfabrik unmittelbar an Bach und Fernstraße, war freilich dort auch zu Ende: Tal, nach einer Seite geöffnet. Zwar konnte man am oberen Ausläufer zwischen Keilberg und Rabenberg heraus, aber die Straße war noch im Bau, war ehedem nur ein befestigter Weg gewesen, bevor die Wismut kam, die aber brauchte die Straße und baute sie nun, baute sie eilig. Bahnhof und Papierfabrik sind die untere Grenze des Dorfes, sechshundert Meter über NN. Am Bahnhof zweigt die Dorfstraße von der Fernstraße ab, bis Kilometer vier ist sie gepflastert. Das ist der Markt. Aber die neue Straße, die übern Berg soll und hinterm Marktplatz beginnt, muß achtzig Meter höher hinauf, bei drei Kilometern Luftlinie, und immer durch Wald, das ist das Problem.
    In der Talmitte befinden sich Friedhof und Dorfkirche. Die Häuser, die dahinter am Hang stehen, sind nicht mehr bewohnt; unter der Erde verlaufen Gangstrecken. Marktplatz und Rathaus und der größere bewohnte Teil des Dorfes mit dem Gasthof »Gambrinus« liegen im Oberdorf; von hier sind es vier Kilometer abwärts zum Bahnhof, vier Kilometer aufwärts nach den drei anderen Seiten. Links ist der Rabenberg, der Wolfswinkel rechts, hinten wird das Tal begrenzt vom Keilberg. Zwischen oben und unten und rechts und links verkehren Linienbusse, die gelb gespritzt sind und |39| selten fahren, sowie Schichtbusse der Wismut-AG, die sind grau gestrichen und fahren öfter.
    Die neue Straße, die übern Berg soll, hat einen Namen: sie heißt Kirow-Straße. Ein paar Leute wissen, wer Kirow war. Sie beginnt am Markt, läßt die Großküche zwei links liegen, führt über ein Stück Feld, das schräg gestellt ist, in den Wald, führt aufwärts in Schleifen: Zechenplatz, Schacht FRISCH GLÜCK, Schacht ERSTER MAI, Gummibahnhof, Abzweigung zur Erzwäsche, Zentralwerkstatt, Rabenberg. Sonst weiter Richtung Holzeinschlag. Der heißt Hundshübel. Die Wismut baut da vierzig Häuser. Davon stehen vorerst drei. Die sind in Holz ausgeführt. Vier Fundamente stehen für die nächsten, die aber aus Stein sein sollen. Hundshübel ist ein Ausflugsort gewesen, mit Wirtschaft, Aussichtsturm, Kaffeegarten, die Wirtschaft steht noch. Früher kam man zu Fuß hin oder mit Pferdefuhrwerk, vielleicht noch mit dem Fahrrad. Wie man auch zur Kreisstadt, die hinterm Berg liegt, nur zu Fuß kam oder mit Gespann, weil keiner mit dem Bus zum Bahnhof fahren wollte und mit der Bahn um sieben Berge herum. Das hat doppelt und länger gedauert, selbst wenn man gleich Anschluß hatte. Die neue Straße verbindet Bermsthal mit den oberen Wismut-Objekten und der Siedlung. Und demnächst mit der Kreisstadt.
    Das ist Bermsthal von oben. Seitental, das von einem Haupttal abzweigt. Mulde zwischen drei Bergen. Der Wald ist weit verdrängt.

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