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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Schalterfensterchen und schlürften ein grelles Heißgetränk, das aufdringlich nach Sacharin schmeckte. Die Mutter schaute still zu, wie er den heißen Pappbecher zwischen seinen klammen Händen zum Munde führte.
    Als sie auf den Bahnsteig kamen, war der Zug schon eingefahren. Nickel hatte geglaubt, daß der Zug hier eingesetzt |702| würde. Aber er war aus Rostock gekommen, fuhr weiter nach Leipzig, die Waggons waren vollgepfropft mit Menschen und Gepäckstücken.
    Nickel ging am Zug entlang, die Mutter trippelte mit hastigen Schritten neben ihm her. Sie hielt sich ängstlich an seinem Ärmel fest und sah immer wieder aus ihrem kleinen Gesicht zu ihm auf. »Schreib mir bald«, sagte sie. »Und paß auf dich auf …«
    Der Zug war wirklich hoffnungslos überfüllt. An den Waggontüren hingen Menschentrauben, die sich noch in das Wageninnere zu drängen suchten, eine Kelter ohne alle Hoffnung. Nickel versuchte es an mehreren Türen, aber er erwischte nicht einmal ein Stückchen Trittbrett. »Du wirst nicht mitkommen«, sagte die Mutter, und es klang ein ganz klein wenig hoffnungsvoll. Er setzte den Koffer auf den Bahnsteig und fuhr sich mit einer ratlosen Handbewegung durchs Haar.
    Früher einmal waren die Bahnhöfe von der Magie fremder Städtenamen verzaubert, auf den Schienensträngen flimmerte der lockende Glanz der Ferne, die Menschen gingen mit fiebrigen Augen über die Bahnsteige. Früher einmal waren die Bahnhofsuhren Knotenpunkte der Zeit, die Gleise Knotenpunkte der Hoffnung, die Signallampen gaben den Weg ins Abenteuer frei. Früher umarmten sich hier Abschiednehmende, Verliebte stiegen mit scheuem oder mutwilligem Lächeln ein zur ersten gemeinsamen Reise, Eltern winkten ihren Kindern, erwachsene Söhne und Töchter ihren Eltern. Aber aus den Augen der Menschen, die hier um einen Platz im Zug kämpften, war die Freude gewichen. Die Schienenstränge hatten ihren lockenden Glanz verloren. Wer nicht unbedingt in irgendeinen Zipfel des Landes fahren mußte, fuhr nicht. Dieses Volk war den langen Irrweg einer Nation gegangen, es war des Reisens müde.
    »Komm«, sagte Nickel, »wir versuchen es mal am anderen Ende.«
    |703| Sie gingen den Bahnsteig hinunter, drängten sich durch den Lärm. Amateurschieber, die sich auffällig unauffällig benahmen; Berufsschieber, mit allen einträglichen Wassern gewaschen; Funktionäre, die allmorgendlich aus den Zügen sprudelten und allabendlich wieder in ihnen versickerten; Handwerker, Spekulanten, Kleinfabrikanten, Antiquitätenhändler, Makler, die sich in der Vier-Sektoren-Stadt mit ihren zwei verschiedenen Währungen, zwei Märkten, zwei Wirtschaftsformen und zweierlei Polizei Waren und Materialien besorgten, die es im östlichen Teil Deutschlands nicht gab, und dafür Dinge über die Sektorengrenze schmuggelten, die im westlichen Teil teurer waren; Angehörige von Berufen, die in keinem Gewerbeverzeichnis standen; ganze Familien auf dem Wege zu einer neuen Arbeitsstelle, einer neuen Heimstatt; Heimkehrer und Heimatlose; umherirrende Jugend ohne Wohnung und Beruf; Strandgut zwischen Zusammenbruch und Neubeginn. Ringsum im Lande verebbten die Wogen des Untergangs, die Sintflut, die über dem versunkenen Welteroberungsreich zusammengeschlagen war – die letzten Rinnsale sammelten sich in den Bahnhöfen. In der feuchtkalten Dämmerung der zerstörten deutschen Bahnhöfe vollzog sich die letzte Heerschau der Gestrandeten.
    Hinter der Lokomotive und dem Postwagen hingen zwei Wagen der ersten Klasse. Nickel schob seinen Koffer in den Gang. Er kam bis zur Tür des ersten Abteils, dann verbaute ihm eine Barriere von Gepäckstücken, auf der zwei Frauen saßen, den Weg. Hinter ihm quoll eine Lawine junger Leute aus der Verbindungstür des Ziehharmonikadurchgangs, die ein Eisenbahner eben geöffnet hatte. Nickel lehnte seinen Koffer an das Heizungsrohr und öffnete das Fenster. Die beiden Frauen protestierten, aber er kümmerte sich nicht darum. Die Mutter lief suchend am Waggon auf und ab, jetzt entdeckte sie ihn. Sie kam ans Fenster und streckte ihm ihre kleine Hand herauf.
    |704| Nickel sah in ihr verhärmtes Gesicht, in die blassen, ängstlichen Augen, und mit einem Mal begann der Bahnsteig vor seinen Augen zu schwimmen. Er strich leise über ihre Hand. Den Kopf leicht schräg geneigt, hörte sie auf seine hastigen Worte. »Denk ein bißchen mehr an dich, Mutter. Ruh dich auch mal aus.« Sie nickte ernsthaft, aber er wußte, daß sie sich schon morgen wieder abhetzen

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