Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
Vom Netzwerk:
erfüllt vom unendlichen Raunen der Zeit; es waren gespenstische Aufbrüche ins Ungewisse, die Alltäglichkeit des Fahrenmüssens, der Sog unwirtlicher Industrie-Zentren, die Strenge eines unerfüllbar scheinenden Auftrags. Wenige nur fuhren einem neuen Ziel entgegen, wenige nur in freudiger Ungewißheit, fast alle in ungewisser Sorge.
    |709| Die Züge glichen einander in ihrer kalten, grauen Eintönigkeit wie die finsteren Häuserzeilen der Vorstädte. Täglich legten sie die Entfernung zwischen zwei Punkten zurück, aber die Punkte unterschieden sich kaum, das beglückende Gefühl der Bewegung war zur aussichtslosen Monotonie erstarrt, man empfand kaum noch einen Unterschied zwischen im Zug sitzen und einen Zug vorbeifahren sehen. Die Verheißung des Unterwegs war durch das bange Aufatmen des Ankommens ersetzt. Im Pferch der Waggons verschwanden die letzten Ungleichheiten zwischen den Reisenden der Oberklasse und den Reisenden der Unterklasse, man saß im gleichen Zug, aber dennoch kümmerte sich jeder um seine eigenen Sorgen, dennoch blieb ein Satter satt und ein Hungriger hungrig, ein Spekulant blieb ein Spekulant, und ein Arbeiter blieb einer, der arbeitete, verschieden blieben die Interessen, und verschieden blieb die Feindschaft.
    Nickel war oft unterwegs gewesen in der letzten Zeit, nach Oranienburg und nach Brandenburg, nach Storkow und nach Luckenwalde, in Dutzende kleine Dörfer und in Dutzende kleine Städte. Meist war er gern gefahren, trotz der vollgepfropften Züge, trotz der gerüttelten Enge der zugigen Lkw-Führerhäuschen, in denen sie oft zu viert und zu fünft gesessen hatten, trotz der schlechten Straßen. Aber das waren kurze Abstecher gewesen, Zwei- oder Dreitagereisen, und selten war er allein gefahren. Jetzt aber fuhr er allein irgendwohin, wo ihn niemand kannte, in einen Betrieb, von dem er nichts wußte, zu Menschen, die ihn nicht erwarteten. Veränderungen erfüllten ihn immer mit beklemmender Ungewißheit, die Lehre, an die er glaubte und die er verkündete, hatte von seinem Wesen noch nicht Besitz ergriffen, die Veränderbarkeit der Welt und der Dinge erzeugte in ihm ein Gefühl der Angst und der Unsicherheit, sobald sie ihn selbst betraf, seine ureigensten Gewohnheiten, das voraussehbare Gleichmaß seiner Tage.
    Der Zug ratterte über eine Weiche, legte sich in eine Kurve, Nickel wurde an die Tür gedrückt. Er saß unbequem auf |710| seinem Koffer, der zu hoch war, es war mehr ein Lehnen auf dem Scheitelpunkt zwischen Sitzen und Stehen. Durch die Fensterritzen flog feiner Ruß und bedeckte seinen Joppenärmel mit schwarzen Punkten.
    Sieben Männer saßen neben Nickel auf dem schmalen Perron zwischen der Mündung des Ganges, der Klosettür und dem Ziehharmonikadurchgang zum nächsten Wagen. Sie schienen sich zu kennen, Nickel schätzte sie alle zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahre alt, den Brillenträger, der ihm beim Einsteigen geholfen hatte, nannten sie ›Professor‹. Sie ließen eine große Flasche akzisefreien Bergarbeiterschnaps reihum gehen, und Nickel, der ihrem Gespräch unbeteiligt zuhörte, hielt sie für Arbeiter aus den Uran-Gruben. Der Professor, vermutete Nickel, war wahrscheinlich ein ehemaliger Oberlehrer, Geschichtslehrer vielleicht. Ein anderer, den sie Ehrlichkeit nannten, war vermutlich Flugzeugführer gewesen, Jäger-Pilot oder so etwas. Die beiden bestimmten das Gespräch. Aus den kargen Sätzen der anderen war kaum etwas über ihre Person und Herkunft zu entnehmen. Drei von ihnen trugen die schwarze Schirmmütze der Bergarbeiter mit den gekreuzten Hämmern und Schlägeln.
    Allmählich hörte Nickel dem Gespräch mit mehr Interesse zu. Neugier überkam ihn, etwas über diese Männer zu erfahren; es waren Leute, denen die Gegend, in die er fahren mußte, bereits vertraut war. Aber sie nahmen kaum von ihm Notiz, die Schnapsflasche kreiste, das Gespräch hatte jene ironische Bezüglichkeit von Andeutung und Unausgesprochenem, die einen Außenstehenden schwer Zugang finden läßt.
    »Jetzt müßte es einen Krach geben«, sagte der Blatternarbige, »und wir müßten in einem gutgefederten Speisewagen sitzen, ein saftiges Rumpsteak auf dem Teller, ein kühles Pilsner …«
    »… eine Brasil«, sagte der mit den tätowierten Handrücken.
    |711| »… und eine Fahrkarte nach Paris in der Tasche«, ergänzte der Flugzeugführer.
    »Dies ist ein gar wohlgefällig Wort«, predigte der Professor. »Als der Herr, in Unkenntnis des Gilgamesch-Epos, die Sintflut

Weitere Kostenlose Bücher