Sueße Prophezeiung
Prolog
----
London, England, August 1159
»Wahnsinn.« Der Höfling im großen Saal des königlichen Palastes betonte das Wort genussvoll und zog dabei jede Silbe in die Länge. »Er liegt mütterlicherseits in der Familie, habe ich gehört. Aus der schottischen Linie.«
Lady Avalon d’Farouche hörte die getuschelten Worte der Unterhaltung, die erstarb, als sie sich näherte. Sie warf den drei jungen Männern ein gedehntes Lächeln zu, die sich daraufhin vor ihr verbeugten, aber ihrem Blick auswichen. Mit voller Absicht blieb sie dicht bei ihnen stehen und gab vor, irgendeinen Faden von ihrem Kleid zu streifen. Allen dreien stieg die Röte ins Gesicht, als sie verweilte. Ziemlich betreten schauten sie dann schließlich zu.
Wieder schenkte sie ihnen ein Lächeln, dessen Kälte nicht zu übersehen war, während ihr eisiger Blick auf ihnen ruhte. Das erlaubte sie sich fast nie – es würde nur die Gerüchte mehren –, doch sie konnte der Versuchung nicht widerstehen.
Den dritten Mann kannte sie nicht, aber zwei von diesem Trio spionierten ihr nach, seit ihrem Debüt bei Hofe vor eineinhalb Jahren. Sie jagten ihr ganz offen hinterher, obwohl ihre Verlobung allgemein bekannt war. Anfangs hatten sie ihr den Hof gemacht; doch als sie sie freundlich, aber bestimmt zurückwies, begannen sie, ihrer Unzufriedenheit Luft zu machen, und nährten gemeinsam die Saat des Klatsches, bis er voll erblühte ...
Avalon d’Farouche of Trayleigh sei kalt, ja unmenschlich. Sie würde sich für etwas Besseres halten. An ihr hafte der Makel schottischen Blutes und barbarischer Rituale. Ihr Herz bestünde nur aus Splittern schwarzen Eises.
Wie wenig sie sie doch kannten!
Aber es war nicht viel Anstoß nötig, um die Gerüchte zum Brodeln zu bringen. Sie waren verletzend und lächerlich, aber die Menschen hatten sie begierig aufgegriffen, wie immer, wenn es um einen Skandal ging. Unter all dem lag ihr wahres Problem verborgen: Avalon passte einfach nicht an den Hof von König Henry, und sie wusste das sehr wohl, übrigens jeder andere auch.
Jetzt schaute sie dem Mann, der gesprochen hatte, direkt in die Augen. Unter ihrem musternden Blick vertiefte sich seine Röte sogar noch.
»Nicholas Latimer – wie ist Euer Befinden, lieber Lord?«
»Sehr gut, Mylady«, erwiderte er. Ein schmaler Schweißfilm bildete sich über seiner Oberlippe. Avalon heftete ihren Blick darauf und versank in Nachdenken.
Angst. Albtraum, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie stammte von einem Wesen, das nur sie zu hören vermochte.
»Wie erleichtert ich bin, das zu hören!« Ihre Worte klangen freundlich und sanft und gaben keinen Hinweis auf etwaige Hintergedanken. »Ich hörte solch unselige Geschichten über Euren Schlaf, Mylord.«
»Meinen Schlaf?«
»Oh ja. Einige der Damen sind ziemlich beunruhigt.« Sie warf den Herren daneben einen kurzen Blick zu. Beide verschlangen sie mit ihren Augen. Dann wandte sie sich wieder Latimer zu. »Man sagt, Ihr ... träumt, Mylord.«
Latimer wurde bleich. »Wie bitte?«, fragte er. Seine Stimme war nur noch ein raues Flüstern.
Albträume, soufflierte die verschlagene Stimme.
»Ist dem nicht so, Mylord?«
»Woher ...«
Überwältigt von dem abrupten Blutverlust in seinem Kopf schien er unfähig, den Satz zu vollenden. Etwas Unaussprechliches flackerte in seinen Augen.
Forschend betrachtete Avalon den Mann, der fast zitterte – Dunkelheit, Lippen, Geschmack, Begierde, Angst –, und beschloss plötzlich, Mitleid mit ihm zu haben. »Es bedeutet nichts, war nur eine Idee«, sagte sie. »Ich wünsche Euch alles Gute, Euch allen.«
Sie sahen ihr nach, als sie sich in Bewegung setzte. Eine einsame Gestalt inmitten eines dicht bevölkerten Raumes, wie von einer unsichtbaren Mauer umgeben.
»Wie konnte sie das wissen ?«, hörte sie Nicholas hinter sich fragen.
»Eine Hexe«, meinte sein Freund.
Der dritte Mann sprach mit gesenkter Stimme in ehrfurchtsvollem Ton: »Die schönste Frau, die ich je gesehen habe!«
Zerstreut nickte Avalon jenen zu, die sie begrüßten, und wiederholte seine Worte lautlos.
Eine Hexe.
Natürlich stimmte das nicht, obwohl sie wusste, dass die meisten an diesem vornehmen, intriganten Hof insgeheim vom Gegenteil überzeugt waren. Aber man musste keine Hexe sein, um die Schatten zu sehen, die ständig unter Nicholas Latimers wachen Augen lagen. Man musste keine Hexe sein, um den gehetzten Ausdruck, die wilden Visionen zu bemerken, die auch im Wachzustand in seinen Pupillen
Weitere Kostenlose Bücher