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Russische Freunde

Russische Freunde

Titel: Russische Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Lutz
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ihren Streifzügen durchs Quartier. Freddie durfte bei der Quartierbande nicht mitmachen, weil er zu klein war, und mich wollten sie nicht, weil ich ein Mädchen war. Freddie war wie ein kleiner Bruder. Juri gegenüber habe ich ähnliche Gefühle, er ist jünger als ich, aber er ist ein Verbündeter, dem ich ohne viele Worte begegne. Weshalb ich wenig über ihn weiss.
    Was uns auch verbindet, ist das Klavier. Als Juri hier einzog und es die Treppe hochgetragen wurde, hatte ich seit Jahren keine Tasten mehr berührt. Dann aber liess Juri mich sein Klavier benutzen und eigentlich haben wir uns so kennengelernt. Auch das ist wie in meiner Kindheit. Damals ging ich zu einer Nachbarin, um zu spielen, zu einer älteren Dame, die mich dann auch unterrichtete. Da die Stunden nicht offiziell waren und der Unterricht meine Eltern nichts kostete, erwartete niemand, dass ich übte. Frau Rottuner brachte mich trotzdem dazu, mich mit Fingerübungen abzugeben, und ich wurde überraschend gut. Als ich irgendwann, ich war vielleicht sechzehn oder siebzehn, mit dem Improvisieren begann, war sie zuerst entsetzt. Dann aber überwand sie sich und besorgte mir Noten und Bücher über Jazz und Rock. In meiner Jugend verbrachte ich Stunden in der Nachbarwohnung am Klavier, und später gab es sogar eine Zeit, wo ich mit einer Band unterwegs war.
    Juri selbst spielt ausgezeichnet Klavier. Er hat mir erzählt, er habe mit vier Jahren an der öffentlichen Musikschule von Tscherepovez begonnen, von dort stammt er. Und Juri ist ausgesprochen lärmtolerant. Selbst wenn ich stundenlang die gleichen Dinge übe, sitzt er seelenruhig mit seinen Arbeiten für die Uni im Nebenzimmer. Er muss in akustisch schlecht isolierten Plattenbauten aufgewachsen sein. Mein Geklimper stört ihn nicht, das hat er schon oft gesagt.
    Ich rief meine Mutter an, in der Hoffnung, dass ich ihr einen Schlüssel überlassen hatte. Das Gespräch wurde langfädig, bis ich schliesslich die Frage nach dem Schlüssel anbringen konnte. Sie hatte einen, und wir vereinbarten, dass ich ihn am nächsten Tag holen kam.
    Als ich auflegte, merkte ich, wie kalt mir war. Jetzt im September war es abends schon recht kühl. Ich sass neben dem Telefon auf dem Boden, durch die undichte Balkontür zog eisige Luft herein. Bald schon musste ich Öl beschaffen, ich heize mit einem Ölofen aus den Fünfzigerjahren, den man morgens mit einem Kanister auffüllt. Die Wohnung würde wieder den ganzen Winter über nach Öl stinken.
    Juri war nicht da. Ich stieg mehrmals zu seiner Wohnung hoch und klopfte an die offen stehende Tür, betrat die Wohnung aber nicht. Juri kam auch im Laufe des Abends nicht nach Hause.
    Drei Tage später war Juri immer noch verschwunden. Ich hatte nichts zu tun, ich drückte mich ums Bewerbungen schreiben. Seit Januar, seit neun Monaten also, hatte ich keine Arbeit mehr, abgesehen von den wenigen Schichten im Obdachlosenheim. Um diesen Aushilfsjob war ich zwar froh, aber ich fand ihn, vor allem die Nächte dort, immer unerträglicher. Ich fühlte mich selbst zu sehr als Sozialfall, um noch Geduld für gestrandete Existenzen aufzubringen. Die Gänge zum Arbeitsamt, das Bewerbungen schreiben, die Absagebriefe im Briefkasten zermürbten mich. Ich hatte es in all den Monaten nie zu einem Bewerbungsgespräch geschafft. Ich bin in solchen Dingen nicht sehr begabt. Trotzdem musste ich eine Lösung finden, jetzt bald. Selbstverständlich war es nun ein Problem, dass ich die Ausbildung abgebrochen hatte.
    Es war kalt in der Wohnung und ich hatte kein Geld, um etwas zu unternehmen. Und so langsam machte ich mir wirklich Gedanken darüber, was mit Juri geschehen war. Deshalb holte ich seinen Koffer aus der Abstellkammer und öffnete ihn.
    Was wusste ich denn schon von Juri? Ein paar Dinge aus seiner Kindheit. Er hatte erzählt von Ferien in der Ukraine, von Obstgärten voller blühender Pflaumen-und Kirschbäume, in denen er sich als Kind herumgetrieben hatte, und dass sie dort mit einem Gewehr auf Vögel geschossen hatten. Dass im Winter in Tscherepovez, das lag ganz im Norden, nur ein einziger Raum der Wohnung beheizt wurde, und dass sich die ganze Familie abends dort aufhielt. Von einem alten Onkel, der Dinge sah, die niemand sonst wahrnahm, und der ihn als Kind oft erschreckt hatte. Russland hat mich immer schon angezogen, aber mit meinen Bildern von Schlittenfahren und russischen Bauerndörfern lag ich vermutlich um Jahrhunderte hinter der Realität.
    Der Koffer war nicht

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