Sabihas Lied
hätte sie die Frage vernommen, die ich mir in Gedanken stellte. »Hallo, Ken«, begrüÃte sie mich lächelnd. Ich hörte, wie John und Houria hinter mir den Laden betraten, Hourias helle Stimme klang aufgeregt, offenbar hatte sie allen etwas Wichtiges zu verkünden. Ich überlegte, wessen Idee es wohl gewesen war, den Laden so zu nennen: Figlia Fiorentino.
»Ich werde Mittwoch für uns kochen«, sagte Sabiha. »Etwas, das du und Clare noch nie gegessen habt.« Sie lachte.
»Das kommt nicht in Frage«, sagte ich. »Ihr seid doch meine Gäste.«
»Etwas Tunesisches. Eine Ãberraschung.« Sie sah mich verschmitzt an. »Wir kochen immer für unsere Freunde, Ken. Das ist schlieÃlich unser Metier. Du und Clare stellt uns euer schönes, gastfreundliches Haus zur Verfügung. Wir kümmern uns um alles andere.« Zögernd hielt sie inne. Ihr lag noch etwas anderes auf dem Herzen. »Du bist jetzt Teil unserer Geschichte«, sagte sie dann.
Ich war gerührt. Doch bevor ich reagieren konnte, zupfte Houria an meinem Ãrmel und rief immer wieder laut: »Ken! Ken! Ken!« Ich ging in die Hocke und fragte sie: »Was ist denn, mein Schatz?«
Sie hielt mir ein Blatt Papier entgegen. Eine Kinderzeichnung.
»Ich habe einen Preis bekommen, für meine Zeichnung von Mum!«, antwortete Houria atemlos. Sie lieà mir kaum Zeit, einen Blick auf das Bild zu werfen, sondern riss es mir wieder aus der Hand und rannte hinter den Tresen, um es ihrer Mutter zu zeigen. »Mum! Guck mal! Dafür habe ich einen Preis bekommen!« Sabiha hob sie hoch und drückte sie an sich, aber Houria sträubte sich und schrie: »Guck dir mein Bild an, Mum!«
Als Sabiha schwanger wurde, war sie so alt wie Clare. Ich fragte mich, ob Clare vielleicht doch noch ein Kind bekommen würde. Anders als Sabiha hatte sie nie dieses überwältigende Bedürfnis gehabt, Mutter zu werden. Ich sah zu, wie Houria pausenlos auf Sabiha einsprach, um die Interpretationsversuche ihrer Mutter zu korrigieren. »Nein, das ist deine Nase, kein Auge!«
Sabiha wurde oft von italienischen Kunden gefragt, warum sie ihren Laden so genannt hatte, obwohl sie und ihr Mann doch keine Italiener waren, und dann antwortete sie immer, Signor Fiorentino habe ihnen etwas sehr Kostbares geschenkt, für das sie ihm niemals genug danken könnten. Was diese Kostbarkeit genau war, die sie von Signor Fiorentino erhalten hatten, erzählte sie natürlich keinem.
John und ich begrüÃten einander. Er hievte seine Tasche hoch. »Englischaufsätze«, erklärte er. »Vielleicht brauche ich mich bald nicht mehr damit herumzuschlagen.«
»An deiner Stelle würde ich meinen Beruf noch nicht aufgeben, John«, sagte ich.
D rauÃen wird es dunkel. Ich habe kein Licht angemacht. Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue aus dem Fenster, auf der anderen StraÃenseite schneiden die letzten Sonnenstrahlen wie Klingen durch die Ulmen im Park. Jetzt habe ich Sabihas Segen, ihre Erlaubnis. Eines Tages werde ich mit ihr über meine Erzählweise sprechen. Im Haus ist es still. Mein Notizbuch und die Schachtel mit den gespitzten Bleistiften liegen vor mir. Ich benutze keinen Computer. Ich sitze so gern über den Tisch gelehnt und spiele mit dem Notizbuch, drehe es in alle Richtungen, kaue am Stift und betrachte die Ulmen. SäÃe ich vor einem Bildschirm, könnte ich nicht mehr träumen. Schreiben ist meine Art, der venezianischen Lösung zu entgehen.
Stubby stupst mir mit seiner Nase gegen das Bein. Ich betrachte den Sonnenuntergang. Es ist ein unbeschreiblich schöner Anblick. Als ich Clare vorhin erzählte, dass John seine Geschichte zu Papier bringt, meinte sie: »Habe ichâs dir doch gesagt!« Und ich antwortete: »Ja, vermutlich wird das Buch Mord in der Rue des Esclaves heiÃen.« Worauf Clare sagte: »Wer weiÃ, ob er dich nicht überrascht.« Und ich erwiderte: »Wer weiÃ.« Dann fragte sie mich: »Wie soll deine Version denn heiÃen?«, und ich antwortete: »Mal sehen.« Ich glaube eigentlich nicht, dass John über Nacht zum Schriftsteller geworden ist, wie er behauptet. Auch wenn er Sabiha alles verziehen hat, habe ich das Gefühl, dass er sich gegen gewisse schmerzliche Erfahrungen sperrt, die für die Arbeit eines Schriftstellers eine unverzichtbare Quelle sind. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie
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