Sabihas Lied
bewahren, allen Umständen zum Trotz. Danach konnte meines Erachtens nicht mehr viel kommen. Es gab noch ein paar Fragen, die ich ihm stellen wollte, beispielsweise, ob Nejibs Bruder jemals erwischt wurde, aber das hatte in meinen Augen noch Zeit.
Wir saÃen schweigend da. Ich lauschte dem Gespräch am Nebentisch, das auf Spanisch geführt wurde. Lorcas Sprache! Es war eine Freude, sie zu hören. Ich dachte nicht mehr über mich nach. John und ich erwarteten voneinander nichts Bestimmtes, so dass zwischen uns eine ganz entspannte Stille herrschte. Ich dachte, an diesem Tag, in dieser Angelegenheit wäre das letzte Wort schon gefallen. Ringsum ging das Leben weiter, und ich hatte eine neue Geschichte zu schreiben.
Dann bemerkte ich, dass John mich unverwandt ansah, mit einem Lächeln in den Augen. Er sagte: »Ich möchte dir danken, Ken.«
»Oh, keine Ursache«, erwiderte ich. »Der Dank gebührt dir.«
»Ich möchte dir aber danken. Du ahnst nicht, was du für mich getan hast. Nach sechzehn Jahren in Frankreich bin ich mit leeren Händen zurückgekommen. Ich hatte nichts erreicht, gar nichts. Als hätte ich jedes Talent vergeudet, das ich früher einmal vielleicht besaÃ, jeden Ehrgeiz verloren. Mich plagten Schuldgefühle, weil es mir nicht gelungen war, etwas aus meinem Leben zu machen. Kaum waren wir in Australien, beging ich den Fehler, mit Sabiha nach Moruya zu ziehen. Ich war überzeugt, dass ich in Melbourne nichts finden würde. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die Schulbehörde von Victoria mich nach so langer Abwesenheit einstellen würde, und so habe ich es nicht einmal versucht. Ich ging nach Moruya zurück, um meine Eltern zu sehen. Mum war schon im fortgeschrittenen Alzheimer-Stadium und konnte sich nie merken, wer Sabiha eigentlich war. Aber sie schien sie trotzdem zu mögen. Sabiha ging es lange schlecht, weil sie um Bruno trauerte. Im ersten Jahr dachte ich, sie würde es niemals verwinden. Ich frage mich, ob sie es ohne Houria geschafft hätte. Sie wird ihn bestimmt nie vergessen, aber inzwischen kann sie mit dem Verlust umgehen. Wir sprechen nicht darüber. Was sie seinetwegen empfindet, behält sie für sich. In Moruya haben wir fünf ziemlich harte Jahre verbracht. Bis ich vom Lehrermangel in Melbourne hörte. Den Rest kennst du.«
John verstummte wieder, und ich dachte, jetzt hätte ich wirklich alles gehört. Ich wollte ihn gerade fragen, ob Sabiha wusste, dass er mir ihre Geschichte erzählt hatte, als er mich ansah und sagte: »Als du die ersten Male samstags in der Backstube aufgetaucht bist und ich dich später in der Bibliothek traf, wusste ich nicht, wer du bist. Dann habe ich mir tagsüber eine Wiederholung der Book Show angesehen und dabei erfahren, dass du Schriftsteller bist. Ich hatte deinen Namen schon mal gehört, aber noch keines deiner Bücher gelesen. Und als ich an diesem Samstag im Schwimmbad neben dir stand, an der seichten Beckenstelle, dachte ich mir, das ist ein Zeichen. Danach habe ich dich auf einen Kaffee eingeladen, erinnerst du dich?«
»Der Chlorwasser-Kaffee«, sagte ich. »Ja, ich erinnere mich.«
»Ich wollte die Bekanntschaft mit dir nutzen.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich, obwohl ich es zu wissen glaubte. Sein Bedürfnis, sich das Vergangene von der Seele zu reden, um mit seinem Leben voranzukommen, war offenkundig gewesen.
»Ich glaubte nicht so recht, dass unsere Geschichte jemanden interessieren könnte. Aber ich hatte nichts anderes. Mehr hatte ich nach sechzehn Jahren in Paris und fünf vergeudeten Jahren in Moruya nicht im Gepäck. Darum wollte ich unsere Geschichte an dir ausprobieren. Du hast es ja selbst gesagt, du warst mein idealer Zuhörer. Und dein Interesse hat mich ermutigt, die Geschichte zu Papier zu bringen. Nach jedem Treffen schreibe ich zu Hause noch stundenlang auf, was ich dir erzählt habe.« Er wartete meine Antwort ab.
Ich schwieg.
»Ich bin dafür immer bis zwei, drei Uhr morgens aufgeblieben. Wenn man einmal begonnen hat, ergibt sich alles andere wie von selbst, nicht wahr? Inzwischen habe ich fast eine komplette erste Fassung beisammen.«
»Das ist gut«, sagte ich. »Möchte nicht jeder mal seine Lebensgeschichte festhalten?«
»Ich bin zum Schriftsteller geworden, Ken.«
Er meinte es offensichtlich ernst.
»Jetzt ergibt mein Leben einen Sinn. Dafür
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