SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
sie zum Widerstand übergegangen wären?
Im Mai 1968 erschien in der Zeitschrift »Konkret« ein Artikel, der mit folgenden Worten begann: »Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass alle andern auch nicht mehr mitmachen.« Dieses Zitat hatte die Autorin vom Internationalen Vietnamkongress mitgebracht, der im Februar an der Berliner Technischen Universität stattgefunden hatte. Der Redner hieß Dale A. Smith und war Delegierter des »Student Nonviolent Coordinating Committee« (SNCC), einer Bürgerrechtsorganisation, die ursprünglich von weißen und schwarzen Studenten gegründet worden war und sich dem gewaltlosen Kampf gegen den amerikanischen Rassismus widmete. Irgendwann hörte der Kampf auf, gewaltlos zu sein, die weißen Studenten wurden rausgeworfen und der Name in »Student National Coordinating Committee« geändert, das erlaubte gleichzeitig mehr Beinfreiheit und die Beibehaltung des zum Markenzeichen gewordenen Akronyms. Smith hatte auf dem Kongress über den Vietnamkrieg gesprochen, der nicht nur ein Krieg gegen die Vietnamesen sei, »sondern gegen uns und den Rest an Menschlichkeit, der noch in uns steckt«. Smith forderte Mitgefühl durch Mitleid – und zwar buchstäblich, also durch Mitleiden: »Solange Eltern um ihre Kinder in Vietnam weinen, sollten auch Eltern in den USA um ihre Kinder weinen.«
Er wollte den Übergang vom Wort zur Tat. Zu diesem Zweck erklärte er den aufmerksam zuhörenden Deutschen den Unterschied zwischen Protest und Widerstand:
» Protestieren heißt , sich gegen etwas aussprechen, heißt bekanntmachen, dass man eine bestimmte Tat eines anderen nicht schätzt. Protestieren ist ein intellektueller Akt ... Protestieren heißt spielen. Man nimmt an einer Demonstration teil, hört die Rede an, trägt Transparente und geht nach Hause, um sich im Fernsehen zu sehen. Es gibt viel Spielzeug in den Spielen des Protestes. Widerstand leisten heißt dagegen, nein sagen ohne nähere Erklärung ... Widerstand leisten, das heißt, das Leben so einsetzen, wie du es verstehst, gegen das Leben, wie sie es verstehen, und alles Notwendige tun, um ihre Definition in allen ihren Teilen zerstört zu sehen.
...
Protestieren bedeutet, die Unmenschlichkeit eines anderen zu verabscheuen. Widerstand leisten heißt, die Unmenschlichkeit zu unterdrücken und die Menschlichkeit triumphieren zu lassen. «
Die Autorin, die diese Gedanken begeistert und voll Zustimmung in ihrem »Konkret«-Artikel verarbeitete, hieß Ulrike Meinhof, und wir wissen, was sie mit solchen Lehren angefangen hat. Sie schrieb: »Die Studenten proben keinen Aufstand, sie üben Widerstand. Steine sind geflogen, die Fensterscheiben vom Springer-Hochhaus in Berlin sind zu Bruch gegangen, Autos haben gebrannt, Wasserwerfer sind besetzt worden, eine BILD-Redaktion ist demoliert worden, Reifen sind zerstochen worden, der Verkehr ist stillgelegt worden, Bauwagen wurden umgeworfen, Polizeiketten durchbrochen – Gewalt, physische Gewalt wurde angewendet.« Und wir wissen auch, wo diese Gewalt endete: Die Morde an Siegfried Buback und seinen beiden Begleitern, die Entführung Hanns Martin Schleyers, bei der vier Menschen erschossen wurden, und die spätere Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten. Die Ermordung Jürgen Pontos. Die Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut«. So viele Verbrechen und so viele Opfer. Die RAF war für 33 Morde verantwortlich, 21 ihrer Mitglieder kamen selbst ums Leben.
Es kann nicht schaden, sich diese Taten noch einmal vor Augen zu führen, bevor man sich in eine Debatte über die Gewalt in der politischen Auseinandersetzung begibt. Man sollte die Gefahren kennen: Es droht die Anomie der schwarzen Geländewagen, von der »FAZ«-Feuilletonchef Minkmar sprach. Und es droht der Terror der Selbstgerechten, den Deutschland in seinem Herbst erlebt hat. Diese Drohungen, Anomie und Terror, schützen das Tabu der politischen Gewalt und umgeben es mit mächtigen, unüberwindbaren Mauern. Weil stets das anomische, terroristische Armageddon wartet, wo der gesellschaftliche Protest, den viele unterstützen, zum gesellschaftlichen Widerstand wird, den alle ablehnen. Aber ist das wirklich so?
Man kann sich der Frage von einer anderen Seite nähern: Was wurde eigentlich aus Occupy? Der Amerikaner David Graeber ist
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