Sämtliche Werke
gleichzeitig geglaubt hatte, daß er weit über seinen sichtbaren Rang hinaus eng mit dem Schloß verbunden war. Mit dem Sohn dieser Familie aber, zu der er völlig gehörte und mit der er schon beim Tisch saß, mit einem Mann, der bezeichnenderweise nicht einmal im Schloß schlafen durfte, an seinem Arm am hellen Tag ins Schloß zu gehen, war unmöglich, war ein lächerlich hoffnungsloser Versuch.
K. setzte sich auf eine Fensterbank, entschlossen, dort auch die Nacht zu verbringen und keinen Dienst sonst von der Familie in Anspruch zu nehmen. Die Leute aus dem Dorf, die ihn wegschickten oder die vor ihm Angst hatten, schienen ihm ungefährlicher, denn sie verwiesen ihn im Grund auf ihn selbst, halfen ihm, seine Kräfte gesammelt zu halten; solche scheinbare Helfer aber, die ihn, statt ins Schloß, dank einer kleinen Maskerade, in ihre Familien führten, lenkten ihn ab, ob sie nun wollten oder nicht, arbeiteten an der Zerstörung seiner Kräfte. Einen einladenden Zuruf vom Familientisch beachtete er gar nicht, mit gesenktem Kopf blieb er auf seiner Bank.
Da stand Olga auf, die sanftere der Schwestern, auch eine Spur mädchenhafter Verlegenheit zeigte sie, kam zu K. und bat ihn, zum Tisch zu kommen. Brot und Speck sei dort vorbereitet, Bier werde sie noch holen. »Von wo?« fragte K. »Aus dem Wirtshaus«, sagte sie. Das war K. sehr willkommen. Er bat sie, kein Bier zu holen, aber ihn ins Wirtshaus zu begleiten, er habe dort noch wichtige Arbeiten liegen. Es stellte sich nun aber heraus, daß sie nicht so weit, nicht in sein Wirtshaus gehen wollte, sondern in ein anderes, viel näheres, den Herrenhof. Trotzdem bat K., sie begleiten zu dürfen, vielleicht, so dachte er, findet sich dort eine Schlafgelegenheit; wie sie auch sein mochte, er hätte sie dem besten Bett hier im Hause vorgezogen. Olga antwortete nicht gleich, blickte sich nach dem Tisch um. Dort war der Bruder aufgestanden, nickte bereitwillig und sagte: »Wenn der Herr es wünscht.« Fast hätte K. diese Zustimmung dazu bewegen können, seine Bitte zurückzuziehen, nur Wertlosem konnte jener zustimmen. Aber als nun die Frage besprochen wurde, ob man K. in das Wirtshaus einlassen werde, und alle daran zweifelten, bestand er doch dringend darauf, mitzugehen, ohne sich aber die Mühe zu nehmen, einen verständlichen Grund für seine Bitte zu erfinden; diese Familie mußte ihn hinnehmen, wie er war, er hatte gewissermaßen kein Schamgefühl vor ihr. Darin beirrte ihn nur Amalia ein wenig mit ihrem ernsten, geraden, unrührbaren, vielleicht auch etwas stumpfen Blick.
Auf dem kurzen Weg ins Wirtshaus - K. hatte sich in Olga eingehängt und wurde von ihr, er konnte sich nicht anders helfen, fast so gezogen wie früher von ihrem Bruder - erfuhr er, daß dieses Wirtshaus eigentlich nur für Herren aus dem Schloß bestimmt sei, die dort, wenn sie etwas im Dorf zu tun hätten, äßen und sogar manchmal übernachteten. Olga sprach mit K. leise und wie vertraut, es war angenehm, mit ihr zu gehen, fast so wie mit dem Bruder. K. wehrte sich gegen das Wohlgefühl, aber es bestand.
Das Wirtshaus war äußerlich sehr ähnlich dem Wirtshaus, in dem K. wohnte. Es gab im Dorf wohl überhaupt keine großen äußeren Unterschiede, aber kleine Unterschiede waren doch gleich zu merken, die Vortreppe hatte ein Geländer, eine schöne Laterne war über der Tür befestigt. Als sie eintraten, flatterte ein Tuch über ihren Köpfen, es war eine Fahne mit den gräflichen Farben. Im Flur begegnete ihnen gleich, offenbar auf einem beaufsichtigenden Rundgang befindlich, der Wirt; mit kleinen Augen, prüfend oder schläfrig, sah er K. im Vorübergehen an und sagte: »Der Herr Landvermesser darf nur bis in den Ausschank gehen.« »Gewiß«, sagte Olga, die sich K.s gleich annahm, »er begleitet mich nur.« K. aber, undankbar, machte sich von Olga los und nahm den Wirt beiseite. Olga wartete unterdessen geduldig am Ende des Flurs. »Ich möchte hier gerne übernachten«, sagte K. »Das ist leider unmöglich«, sagte der Wirt. »Sie scheinen es noch nicht zu wissen. Das Haus ist ausschließlich für die Herren vom Schloß bestimmt.« - »Das mag Vorschrift sein«, sagte K., »aber mich irgendwo in einem Winkel schlafen zu lassen ist gewiß möglich.« - »Ich würde Ihnen außerordentlich gern entgegenkommen«, sagte der Wirt, »aber auch abgesehen von der Strenge der Vorschrift, über die Sie nach Art eines Fremden sprechen, ist es auch deshalb undurchführbar, weil die Herren äußerst
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