Die Anatomie des Todes
Die Angst verlieà seinen Körper.
Wie eine dünne, farblose Flüssigkeit sickerte sie aus jeder Pore. Für alles um sich herum war er taub und blind geworden. Stattdessen schien ihm sein Körper wie ein Wald von Tentakeln, die sein euphorisches Glücksgefühl ertasteten. Ein formloser Zustand, dessen inwendige Wärme an manche Tage im Mai erinnerte. Es war lange her, dass er dieses allumfassende und berauschende Gefühl verspürt hatte. Dabei hatte er sich eigentlich geschworen, dass die Zeit des Rausches für immer vorbei war. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. All die Scham und das bittere Gefühl der Niederlage waren nur eine ferne Erinnerung angesichts dieser warmen, pulsierenden Empfindung. Nicht einmal die Glut der Zigarette zwischen seinen Fingern, die sich tief in seine Haut brannte, konnte ihn noch erreichen. Dennoch spürte er, dass er sterben würde. Wusste, dass die Dosis des süÃen Gifts viel zu groà für seinen schmächtigen Körper war. Er würde nicht mehr ins Leben zurückkehren. Zum Sessel im Wohnzimmer mit der verblichenen Tapete und den Wasserflecken an der Decke. Stattdessen würde er am Ende dieses Rausches kollabieren wie ein überhitzter Motor und in all seine Atome zersprengt werden.
Doch plötzlich kehrte die Angst zurück, eisig und stürmisch wie der Polarwind. Sie wurde von schattenhaften, übel riechenden Wesen begleitet. Er konnte ihre Anzahl nicht bestimmen, wusste nur, dass sie sich um ihn scharten wie Dämonen, als warteten sie auf seinen letzten Atemzug. Er war sicher, dass sie miteinander sprachen, auch wenn er ihre Worte nicht verstand. Einer der Schatten wuchs aus den anderen hervor und näherte
sich seinem Gesicht. Fixierte ihn mit eisigem Blick. Studierte ihn wie ein Chirurg, bevor er den entscheidenden Schnitt ansetzt. Er spürte die Vibrationen in seiner Brust, als ihm die heisere Stimme entgegenschlug:
»Jetzt wirst du sterben ⦠und niemand kann dich retten.«
Er erkannte die Gestalt. Sie hatte ihn durchs Leben begleitet wie eine beständige Drohung.
Dann erlosch sein Bewusstsein.
1
Maja Holm hastete den Krankenhausgang entlang zur Notaufnahme. Ihre Clogs klapperten auf dem Linoleum. Der Rettungswagen hatte bereits durchgegeben, dass es sich um eine Ãberdosis handelte. Der Patient war immer noch bewusstlos, obwohl man ihn mit Naloxon vollgepumpt hatte, was normalerweise einen Elefanten wieder auf die Beine gebracht hätte. Doch nicht ihn. Er war schon weit weg. Das Antitoxin hatte seinen Zustand vielmehr verschlechtert und seinen Herzrhythmus aus dem Gleichgewicht gebracht, dessen Sinuskurve nach oben raste. Sie hatte bereits die nötigen Vorkehrungen getroffen und das Personal der Notaufnahme über den Zustand des Patienten informiert. Darüber hinaus hatte sie sich mit Atropinampullen eingedeckt und sich vergewissert, dass ihr der Defibrillator (derjenige, der noch funktionierte) zur Verfügung stand, falls es zu einem Herzstillstand kommen sollte.
In der überfüllten Notaufnahme roch es nach SchweiÃ, feuchten Kleidern und trockenen Mündern. Ein »Wartezimmergeruch«, der in Stavanger ebenso zu finden war wie in Slagelse. Der Anblick von Majas Kittel löste eine erwartungsvolle Unruhe unter den Patienten und ihren Angehörigen aus. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass einige den Blickkontakt mit ihr suchten, musste dies jedoch ignorieren. Der allgemeine Ãrztemangel war auch hier unübersehbar. Wie so oft zu dieser Jahreszeit hatte der Polarwind auf der KüstenstraÃe für einige Unfälle gesorgt. Schon den ganzen Tag wurden Verkehrsopfer mit Knochenbrüchen
und inneren Verletzungen eingeliefert. Die Verletzungen glichen sich so sehr, dass sie die einzelnen Patienten kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Abgesehen von einem Fall, der ihr nicht aus dem Kopf ging: Eine dreiköpfige Familie war mit ihrem VW-Lupo von einem japanischen Geländewagen gerammt worden. Jetzt lag die junge Mutter drei Stockwerke über der Notaufnahme im Koma, wurde künstlich beatmet und wusste nicht, dass ihr Mann und ihre vierjährige Tochter an diesem anonymen Dienstag ums Leben gekommen waren. Ihrer Meinung nach wäre es am humansten gewesen, das Beatmungsgerät unter Missachtung des hippokratischen Eids unverzüglich abzustellen.
Auch Maja war dem unberechenbaren Wind schon fast zum Opfer gefallen. Während ihrer Reise von
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