Sämtliche Werke
und hüllte sich ein. Sie lag nun friedlich da; alles Leid schien von ihr genommen zu sein, ja sogar ihre vom Liegen in Unordnung gebrachten Haare fielen ihr ein, sie setzte sich für ein Weilchen auf und verbesserte die Frisur ein wenig rings um das Häubchen. Sie hatte reiches Haar.
K. wurde ungeduldig und sagte: »Sie ließen mich, Frau Wirtin, fragen, ob ich schon eine andere Wohnung habe.« - »Ich ließ Sie fragen?« sagte die Wirtin. »Nein, das ist ein Irrtum.« - »Ihr Mann hat mich eben jetzt danach gefragt.« - »Das glaube ich«, sagte die Wirtin, »ich bin mit ihm geschlagen. Als ich Sie nicht hier haben wollte, hat er Sie hier gehalten, jetzt, da ich glücklich bin, daß Sie hier wohnen, treibt er Sie fort. So ähnlich macht er es immer« »Sie haben also«, sagte K., »Ihre Meinung über mich so sehr geändert? In ein, zwei Stunden?« - »Ich habe meine Meinung nicht geändert«, sagte die Wirtin, wieder schwächer, »reichen Sie mir Ihre Hand. So. Und nun versprechen Sie mir, völlig aufrichtig zu sein, auch ich will es Ihnen gegenüber sein.« - »Gut«, sagte K., »wer wird aber anfangen?« - »Ich«, sagte die Wirtin. Es machte nicht den Eindruck, als wolle sie K. damit entgegenkommen, sondern als sei sie begierig, als erste zu reden.
Sie zog eine Fotografie unter dem Polster hervor und reichte sie K. »Sehen Sie dieses Bild an«, sagte sie bittend. Um es besser zu sehen, machte K. einen Schritt in die Küche, aber auch dort war es nicht leicht, etwas auf dem Bild zu erkennen, denn dieses war vom Alter ausgebleicht, vielfach gebrochen, zerdrückt und fleckig. »Es ist in keinem sehr guten Zustand«, sagte K. »Leider, leider«, sagte die Wirtin, »wenn man es durch Jahre immer bei sich herumträgt, wird es so. Aber wenn Sie es genau ansehen, werden Sie doch alles erkennen, ganz gewiß. Ich kann Ihnen übrigens helfen, sagen Sie mir, was Sie sehen, es freut mich sehr, von dem Bild zu hören. Was also? « - »Einen jungen Mann«, sagte K. »Richtig«, sagte die Wirtin, »und was macht er?« - »Er liegt, glaube ich, auf einem Brett, streckt sich und gähnt.« Die Wirtin lachte. »Das ist ganz falsch«, sagte sie. »Aber hier ist doch das Brett, und hier liegt er«, beharrte K. auf seinem Standpunkt. »Sehen Sie doch genauer hin«, sagte die Wirtin ärgerlich, »liegt er wirklich?« - »Nein«, sagte nun K., »er liegt nicht, er schwebt und, nun sehe ich es, es ist gar kein Brett, sondern wahrscheinlich eine Schnur, und der junge Mann macht einen Hochsprung.« - »Nun also«, sagte die Wirtin erfreut, »er springt, so üben die amtlichen Boten. Ich habe ja gewußt, daß Sie es erkennen werden. Sehen Sie auch sein Gesicht?« - »Vom Gesicht sehe ich nur sehr wenig«, sagte K., »er strengt sich offenbar sehr an, der Mund ist offen, die Augen zusammengekniffen, und das Haar flattert.« - »Sehr gut«, sagte die Wirtin anerkennend. »Mehr kann einer, der ihn nicht persönlich gesehen hat, nicht erkennen. Aber es war ein schöner Junge; ich habe ihn nur einmal flüchtig gesehen und werde ihn nie vergessen.« - »Wer war es denn?« fragte K. »Es war«, sagte die Wirtin, »der Bote, durch den Klamm mich zum ersten Male zu sich berief.«
K. konnte nicht genau zuhören, er wurde durch Klirren von Glas abgelenkt. Er fand gleich die Ursache der Störung. Die Gehilfen standen draußen im Hof, hüpften im Schnee von einem Fuß auf den anderen. Sie taten, als wären sie glücklich, K. wiederzusehen; vor Glück zeigten sie ihn einander und tippten dabei immerfort an das Küchenfenster. Auf eine drohende Bewegung K.s ließen sie sofort davon ab, suchten einander zurückzudrängen, aber einer entwischte gleich dem anderen, und schon waren sie wieder beim Fenster. K. eilte in den Verschlag, wo ihn die Gehilfen von außen nicht sehen konnten und er sie nicht sehen mußte. Aber das leise, wie bittende Klirren der Fensterscheibe verfolgte ihn auch dort noch lange.
»Wieder einmal die Gehilfen«, sagte er der Wirtin zu seiner Entschuldigung und zeigte hinaus. Sie aber achtete nicht auf ihn, das Bild hatte sie ihm fortgenommen, angesehen, geglättet und wieder unter das Polster geschoben. Ihre Bewegungen waren langsamer geworden, aber nicht vor Müdigkeit, sondern unter der Last der Erinnerung. Sie hatte K. erzählen wollen und hatte ihn vergessen über der Erzählung. Sie spielte mit den Fransen ihres Tuches. Erst nach einem Weilchen blickte sie auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte: »Auch dieses
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