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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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geblendet ward. Ich selbst bin nur durch ein Wunder aus seiner Höhle entkommen; aber umringt vom ungeschlachten Volke der Zyklopen, brachte ich seit vielen Tagen mein Leben in Hunger und Todesangst hin. Auch ihr, unglückliche Fremde, wenn ihr nicht die Beute dieses abscheulichen Riesenvolkes werden wollet – denn gleich Polyphem irren über hundert in diesem unwirtlichen Gebirg umher –, auch ihr besteiget eilig die Schiffe wieder, und löset die Seile vom Strand! Drei 343
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    Monate sind es, daß ich zwischen Höhlen und Wildlagern mein Leben fortschleppe, mich von der ärmlichen Kost der Waldbeeren und Wurzeln ernährend, stets auf der Lauer vor dem Riesengeschlechte, vor dessen tosenden Tritten und brüllenden Stimmen ich erbebe. Da sah ich diese Flotte dem Ufer nahen; ihr mich zu ergeben, brach ich auf, wessen sie auch sein mochte.«
    Kaum hatte er dieses gesprochen, als die Trojaner auch schon auf der Höhe des Berges den Zyklopen Polyphem gewahr wurden, den unförmlichen Riesen mit dem geblendeten Auge, einen behauenen Fichtenstamm als Stock in der Hand, inmitten seiner Schafherde, seines einzigen Trostes im Unglück, einherschlendernd. Am Meere angekommen, ging er mitten in die Fluten hinein, die ihm doch noch nicht einmal bis an die Hüfte gingen. Hier bückte er sich und wusch aus dem ausgestochenen Auge das immer noch fließende Blut, stöhnend und zähneknirschend. Bei diesem gräßlichen Anblicke beschleunigten die Trojaner ihre Flucht, nahmen den bejammernswürdigen Flüchtling, obgleich er ihr Stammfeind war und ihre Stadt hatte zerstören helfen, mit sich zu Schiffe und hieben stillschweigend die Seile ab. Jetzt vernahm der Riese den Ruderschlag und wandte seine Schritte, noch immer in der Flut, dem Schalle des Geräusches zu.
    Mit Mühe entging das letzte Schiff seinen huschenden Händen; und als er vergebens in die Luft griff, erhob er ein so ungeheures Gebrüll, daß die Klüfte des Ätna wie von einem langen Donner widerhallten und das ganze Zyklopengeschlecht, in den hohen Bergen aufgestört, zum Gestade herabgerannt kam. Wie luftige Eichen oder Zypressen ragten ihre Häupter gen Himmel, und sie schickten der absegelnden Flotte drohende Blicke nach.
    Um der Skylla und Charybdis zu entgehen, segelte diese rückwärts, längs dem Gestade der Insel hin, von Achämenides beraten, der diesen Weg früher mit Odysseus zurückgelegt hatte. Auf dieser Fahrt traf den Äneas ein großer Schmerz. Sein greiser Vater Anchises, von den Anstrengungen, Gefahren und Schrecken der Reise ermattet, sollte Italien, das Gelobte Land seiner Sehnsucht, nicht mehr erreichen. Er wurde zusehends schwächer, seine Sinne schwanden, seine Zunge erlahmte, und ohne nur ein Lebewohl sagen zu können, gab er in den Armen seines Sohnes den Geist auf, als sie eben in den Hafen der sizilianischen Stadt Drepanum eingelaufen waren.
    Die trojanischen Flüchtlinge veranstalteten dem ehrwürdigen Vater ihres Führers ein feierliches Leichenbegängnis. Doch hing Äneas nicht lange der Trauer nach. Die Verheißung der Götter trieb ihn, das Volk, welches sich ihn zum Beschützer erkoren hatte, dem Lande der Ahnen entgegenzuführen und das versprochene Reich dort zu gründen.
    ÄNEAS NACH KARTHAGO VERSCHLAGEN
    Kaum hatte die Flotte Sizilien aus dem Gesichte und segelte fröhlich auf der hohen See dahin, als Juno, die alte Feindin der Trojaner, die vom Olymp auf den Schiffszug herniederblickte, bei sich selber sprach:
    ›Wie, sollte mein Beginnen auf halbem Wege stehenbleiben? sollte Troja nicht ganz zerstört, sein Volk und Königsgeschlecht nicht mit der Wurzel vertilgt sein? Soll dieser Eidam des Priamus, soll sein Enkel wirklich Besitz von Italien nehmen? Konnte nicht Pallas die heimkehrende Flotte der Griechen auseinanderschlagen und mit Orkanen das Meer durchwühlen, nur um die Schuld Ajax des Lokrers zu rächen: und ich, die Königin der Götter, Jupiters Gemahlin und Schwester, soll dieses eine Volk jahrelang vergebens bekämpfen?‹ Solche Gedanken bewegte sie in ihrem zornigen Herzen und eilte in das Gebiet der Stürme, nach der Grotte des Äolus, des Königs der Winde. Auf ihren Befehl und ihre Bitten, mit reizenden Versprechungen gemischt, ließ dieser sämtliche Winde aus ihrem Verschlusse los; sie stürzten wie Heere zur Feldschlacht heraus, wirbelten durch die Länder, legten sich, Ost und Süd, West und Nord, zugleich auf das Meer und reizten die Wogen gegeneinander auf, in

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