Sandra und die Stimme der Fremden
zu besuchen, strebte sie mit gesenktem Kopf an den Leuten vorbei.
Eines Tages lief ihr ein verletzter, halbverhungerter Kater zu. Frau Arnold nahm ihn auf und pflegte ihn gesund.
Sie fand Freude an diesem Hausgenossen. Es machte sie glücklich, das Tier zu betreuen und zu sehen, wie es sich erholte. Sie trat dem Tierschutzverein bei, und sie bot dem Städtischen Tierheim ihre Mitarbeit an.
Diese Aufgaben ließen sie vorübergehend gelöster und auch den Menschen gegenüber duldsamer erscheinen.
Kinder brachten ihr kranke Meerschweinchen oder Hasen, und sie brachten ihr die Jungen, die ihre Katzen geboren hatten, und die die Kinder nicht behalten durften. So wollten sie die Tiere davor bewahren, eingeschläfert zu werden. Bald kamen alte oder kranke Hunde hinzu, mit deren Pflege das Tierheim überfordert war.
Die Leute in der Föhren-Allee konnten nicht verstehen, daß die alte Frau ihre kleine Rente für die Tiere opferte. Sie gaben ihr den Namen „Katzen-Marie“ und behaupteten, sie sei nicht mehr ganz richtig im Kopf.
Manche fanden auch, das verwahrloste Grundstück sei eine Schande für die gepflegte Föhren-Allee. Vor allem ihr Nachbar zur Rechten, ein junger Bauunternehmer mit einer attraktiven Frau und vielen Partygästen, empörte sich über den Gestank des Ententeiches und das Bellen der Hunde.
Selbst Florian Seibold und Frau Ansbach verwünschten oft Frau Arnolds Menagerie. Die Tiere gelangten immer wieder in ihren Garten, und sie ärgerten sich über die streunenden Katzen und die Verwüstung, die sie in ihren Beeten anrichteten, obwohl sie andererseits auch Verständnis dafür hatten, daß Frau Arnold in ihrer Einsamkeit die Gesellschaft der Tiere brauchte.
Nur Sandra und Joschi ließen sich von der allgemeinen Feindseligkeit gegenüber der Katzen-Marie nicht anstecken.
Sie liebten die Katzen-Marie seit ihren Kindertagen. In ihrem Haus hatten sie viele schöne Ferienstunden verbracht, ohne überflüssige Ermahnungen, sich nicht schmutzig zu machen oder kranken, räudigen Katzen und Hunden aus dem Weg zu gehen.
Sie halfen Frau Arnold, die Tiere zu füttern. Sie behandelten deren Wunden, bürsteten sie und befreiten sie von Kletten und Zecken.
An Regentagen kostümierten sie sich mit alten Kleidern und Hüten, die sie in den Truhen auf Frau Arnolds Speicher fanden, und sie spielten laut, falsch und ausdauernd auf dem alten Harmonium, das Herrn Arnold gehört hatte, der von Beruf Organist gewesen war.
Für Sandra und Joschi bedeutete das verwahrloste Grundstück ein Ferienparadies, dessen Zauber die Jahre überdauerte. Wann immer sie aus der Stadt zu Sandras Großmutter herauskamen, begrüßten sie auch die Katzen-Marie.
„Hoffentlich kommt Frau Arnold zurück, bevor ihr heimfahrt, sonst weiß ich nicht, wer ihr den Draht hinübertragen soll“, sorgte sich Frau Ansbach, als sie mit Sandra und Joschi in der Küche saß, um sich mit Schinkenbroten und heißen Biskuits zu stärken.
„Wir haben noch mindestens eine Stunde zu pflücken“, nuschelte Joschi mit vollem Mund.
Sandra setzte ihre Teetasse ab. „Bei dem Wind steige ich nicht mehr auf die Leiter“, erklärte sie bestimmt. „Außerdem muß ich los. Meine Mutter hat Dienst. Wenn sie heute abend heimkommt, und die Betten sind nicht gemacht, brauche ich gar nicht erst zu fragen, ob ich zum Flippern ins Jugendheim gehen darf.“
„Kann dein Bruder nicht auch mal was tun?“ empörte sich Joschi. „Ich muß bei uns auch Hausarbeit machen.“
Sandra pustete verächtlich in die Luft. „Der liebe Rainer putzt eher stundenlang an seiner Mühle herum. Und wehe, es stört ihn jemand dabei! Der kann ganz schön unverschämt werden, sage ich euch.“
„Sprich nicht so abfällig von deinem Bruder, Sandra. Vertragt euch!“ mahnte Frau Ansbach.
Sandra lachte. „Tun wir ja! Bloß daß Rainer so auf seine neunzehn Jahre pocht und Mama zu ihm hält, das mag ich nicht leiden. Sie hat ihn verzogen, daran liegt es.“
„Deine Mutter mußte euch ganz allein großziehen. Sie hat es bei ihrem Schichtdienst auf dem Fernmeldeamt gewiß nicht leicht.“
„Ist ja gut, Oma! Reg dich nicht auf“, sagte Sandra. „Wir Fabers halten zusammen, wenn’s drauf ankommt.“ Sie hob die Teemütze von der Kanne. „Magst du auch noch Tee, Joschi?“
Joschi hielt ihr seine Tasse hin. „Also, was ist jetzt?“ fragte er. „Soll ich nicht doch noch mal rauf auf den Baum? Einen Korb voll Birnen bringe ich bestimmt noch zusammen. Wäre doch schade, wenn sie
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