Satt Sauber Sicher
und Gebäckdinge schmücken. "Kommt ihr?", will sie wissen und eigentlich will keiner irgendwo hin. Keiner will denken. Keiner hier will Familie sein. Aber Vater und Sohn erheben sich pflichtbewusst und gehen Kaffeetrinken und Gebäckdinge essen. Die Macht der Frau hat sie in der Gewalt. Mutter, Ehefrau, Diktatorin. Karla schenkt ihnen Kaffee ein, dazu die Spur eines Lächelns, und festigt damit ihr Terrorregime. Freundlichkeit in den Augen und auf den Lippen, aber vollständiger Hass im Kopf. Das merken natürlich die beiden, aber gerade jetzt will keiner Eskalation. Roland hebt sich die Bombe für später auf. Zunächst einmal Gebäck und koffeinhaltiges Heißgetränk für Erwachsene.
Fünf Minuten später kann Roland nicht mehr und es, also das gesammelte, unterdrückte Leiden, bricht aus seinem Gesicht: "Ich ... ich ... bin ... bin todkrank. Krebs. Ich habe überall Krebs ... Gehirn und andere Organe. Überall ... Ich werde, ich werde, wisst ihr, ich werde ... vor ... euch ... Eltern ... vor euch sterben." Stammeln, Stottern, Heulen. Gestammelte Werke. Worte, die versuchen seine Befindlichkeit zu artikulieren, gibt es nicht, also benutzt er diese und versucht, ein wenig Verständnis in die Welt der Verwandtschaft zu streuen. Salziges Verständnis, salzig, nass und klar regnet es aus seinen Augen. Er hält sich seine Hände vors Gesicht, um diese vor Ahnungslosigkeit triefenden Blicke seiner stumpfen Erzeuger abzuwehren, und zelebriert ein Weinen, dass Hubert und Karla nur aus Kindertagen von ihm kennen. Beide Eltern sind wieder mal völlig überfordert. Sie können nichts machen, nicht helfen, nicht trösten, nicht mitweinen, alles ist zu weit weg, hinter einer Mauer verborgen die Echtzeitemotionen ihres Sohnes, der hier einen Zusammenbruch inszeniert. Roland ist aber echt. Er will informieren, wie es um ihn steht, er will es diese Menschen wissen lassen, dass er im Direktkontakt zum Tod steht. Dass dieser eine Frau ist, weiß Hubert aus erster Hand, schließlich lebt er mit Karla zusammen. Roland verschweigt aber seine Vergangenheit, will jetzt nur loswerden, was gerade akut blutet in seinem Herz, in seinem Hirn, in seiner Leber, Lunge, Niere und in seinem Magendarmtrakt. Die wimmernde Hilflosigkeit Rolands lässt die Verbindungen noch mehr erkalten. Lässt frieren. Schaudern. Zögern sowieso. Alle zögern jetzt.
Auch der Kaffee erkaltet. Der Kuchen stinkt. Nach süßem Wahnsinn. Hubert beginnt, massiv unter den Achseln zu schwitzen. Karlas Augen werden wutrot. Niemand sagt was. Die Stille tanzt über der gedeckten Kaffeetafel. Überforderung. So wie damals, als die Kinder einfach nur Kinder waren, und wer weiß denn schon, was Kinder brauchen.
Schläge, klar, Schläge waren gut. Schläge kündigen Richtungen an. Hubert will Roland schlagen. So richtig nochmal mit der flachen Hand auf die zarten Wangen, vielleicht hört dann dieses jämmerliche Weinen mal auf. Karla fragt sich im Übrigen, für wen sie eigentlich jetzt über eine halbe Stunde in der Küche rotiert hat. Wer soll hier jetzt noch gemütlich Kaffee trinken und sich vom guten Kuchen nähren? Wie vieles in ihrem Leben war dieser Aufwand nahezu umsonst.
Rolands Tränenflut weicht einer Schluchzsprache. Keiner versteht ihn, er sich selbst auch nicht. Was macht er eigentlich hier? Er kennt doch seine Eltern und deren emotionale Hürden und obendrein deren soziale Unsportlichkeit, diese Gefühlshürden zu überspringen. Nicht mal im Angesicht des sterbenden Sohnes werden sie weich und reichen ihm Hände des Trosts oder Taschentücher gegen die Tränenflut. Nein, nicht Hubert und Karla, die reichen Kaffee und Kuchen.
Das Thema wird vom Tisch gegessen. Stumm. Der Sohn hat sich äußerlich beruhigt und sieht, dass es nicht anders geht, und nimmt zwei Süßstofftabletten für den Kaffee. Nach zehnminütigem Schweigen beginnt die altbekannte familiäre Prozedur des Kauens, Schlürfens und Schmatzens. Einfach so. Karla gibt jedem ein Stück Kuchen und sich selbst auf. Sie hat Rolands Worte gespeichert, irgendwo in ihrem irren Fleischgehirn, aber sie dringen nicht vor. Sie ist doch eine gute Mutter und Kinder von guten Müttern sterben nicht einfach so mit dreißig. Das geht doch nicht. Hubert denkt sich auch, er sei ein guter Vater und will später mit Roland reden. Er verschiebt diese Idee auf den Zeitpunkt, wenn Roland durch die Tür verschwindet. Dann ist es zwar zu spät, aber die Idee war ja da. Hubert ist ein guter Vater, denkt Hubert, schaut an
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