Schlag weiter, Herz
1
Der Tag trifft ihn wie ein Schlag. Mert wacht auf, als käme er wieder zu sich. Keine Erinnerung, keine Gedanken, ein schiefes Lächeln im Gesicht. Er öffnet die Augen und wartet, bis er ganz bei Bewusstsein ist. Der Ventilator neigt sich von links nach rechts. Jedes Mal, wenn er am äußersten Punkt ankommt, gibt er ein leidendes Quietschen von sich. Der Ventilator pendelt in einem begrenzten Winkel, wie ein Boxer in seiner Ecke, immer wieder von rechts nach links und zurück. Mert hört das Quietschen nicht mehr. Er schlägt das durchgeschwitzte Leintuch zurück, setzt sich auf und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Langsam findet er in den neuen Tag, der vermutlich genauso werden wird wie der letzte. Die Erinnerung springt an, die Vergangenheit setzt mit dem gestrigen Abend ein und reicht zurück bis zum frühesten Zeitpunkt, an den er sich erinnern kann. Ein Kettcar, das über Türschwellen rumpelt. Alles liegt noch vor ihm.
Mert setzt einen Fuß auf, beugt sich nach vorne, stützt sich mit der Hand auf seinem Knie ab und stemmt sich in die Höhe. Er geht in die Küche, erhitzt Wasser im Kocher, reißt eine Portionstüte Nescafé auf und brüht sich Kaffee. Dann geht er raus auf den Balkon, lehnt sich an das Geländer und blinzelt in die Sonne. Er pustet in seine Tasse und wundert sich über seine gute Laune. Ein Hochgefühl, das nach einem Grund verlangt. Doch der liegt verschüttet in dem Traum, aus dem die Hitze ihn verjagt hat.
So sehr Mert auch versucht, das Ende des Traums zu greifen, er ist ihm entglitten. Es bleibt nur die Laune. Mert nimmt noch einen Schluck Kaffee, blickt runter auf die Straße, die ihn vom Strand trennt. Er schaut auf das Meer, dann rechts hinunter zu den Läden am Straßenrand, in denen schon gearbeitet wird. Er hört Stimmengewirr, zwei Roller knattern vorbei, der Hund vor seiner Tür kläfft ihnen nach.
Der Junge, der Pfannkuchen für die Touristen macht, kommt mit seinem alten Roller angefahren. Eine mobile Küche ist an die Seite geschweißt. Der Junge parkt, baut die Küche auf, sieht Mert und winkt mit seiner Kelle. Mert grüßt zurück. Er streckt seinen Hals nach links, nach rechts und geht wieder rein. Er schaltet den Wasserkocher noch mal an, reißt eine weitere Tüte Nescafé auf, schüttet das heiße Wasser darüber und rührt um. Er streckt sich, bis er mit den Fingerspitzen fast das Holz der Zimmerdecke berühren kann. Er nimmt die Tasse, seinen schwarzen Gummiball und setzt sich wieder raus auf den Balkon. Verdammte gute Laune, denkt Mert und knetet den Ball mit der rechten Hand.
Mert fragt sich, ob es ein Zeichen von tiefem Schlaf oder von Dummheit ist, dass er sich selten an seine Träume erinnern kann. Er fragt sich, was Nadja dazu sagen würde. Sie würde kurz nachdenken, ihre Augen würden dabei schmaler werden, und dann würde sie vermutlich etwas sagen wie: »An dem einen kannst du nichts ändern, am anderen aber schon.« Sie haben so viel geredet, dass Mert sich auch in ihrer Abwesenheit mit ihr unterhalten kann. Doch je länger es her ist, seit er Nadja zum letzten Mal gesehen hat, umso unsicherer wird er, was seine Vorstellung von ihr angeht.
Morgens wollte Nadja immer wissen, was Mert geträumt hatte. Wenn er sich erinnern konnte, erzählte er ihr die Bruchstücke sofort im Bett, nach dem Aufstehen oder spätestens beim Frühstück. Sie räumte Brot, Butter, Aufstrich und Marmelade auf den Tisch, während Mert versuchte, die Bilder zu beschreiben, die noch nicht verblasst waren. Es fiel ihm schwer zu schildern, was den Traum ausmachte, die Atmosphäre, wie die Dinge sich angefühlt hatten. Dabei erschien ihm das wichtiger als das Geschehen selbst.
Er träumte, dass er in einer Wohnsiedlung lebte, aus der er nicht mehr herausfand. Er musste sich Prüfungen unterziehen, von denen er nicht wusste, dass es welche waren. Einen Eimer voll rohem Fleisch essen und einen Mann erwürgen. Es dauerte Ewigkeiten, bis der Mann endlich tot war. Einige Tage später träumte Mert, dass er die Leiche des Mannes verscharrt hatte und verhört wurde. Er wollte verraten, wo der Mann lag, nur um nicht weiter verdächtigt zu werden. Solche Träume erstreckten sich über mehrere Episoden und kehrten wieder, manchmal nach Monaten. In anderen Träumen schlug Mert auf jemanden ein, der keine Reaktion zeigte. Dabei war schlagen doch das, was Mert am besten konnte.
Manchmal träumte er auch schöne Dinge, doch daran konnte er sich seltener erinnern. Und egal was es war, es
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