Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)
I
Javier spricht
Ich bin in der Straße der Enttäuschung zur Welt gekommen. Erst als ich acht oder neun war, hörte ich, in der Speisekammer versteckt, wie unsere Köchin dem Scherenschleifer erzählte, woher dieser Name stammte: Vor langer Zeit jagten vier gutaussehende Majos ein hübsches Mädchen und liefen durch unsere Straße, genau hier, auf der Höhe unseres Hauses, das damals noch gar nicht stand, an den Schaufenstern des Parfümladens mit den goldenen Anhängern vorbei, der damals noch nicht existierte, in dem noch nicht der alte Don Feliciano residierte, denn selbst er war damals noch nicht auf der Welt; und dieses Mädchen rannte, oje, und wie es rannte, und diese Majos jagten es, oh, wie sie es jagten – bis sie es erwischten; und sie waren so leidenschaftlich, dass sie ihm die Kleider herunterzerrten, sie rissen die Mantille weg, das Tuch, mit dem das Mädchen sein Gesicht bedeckte – und standen wie angewurzelt. Denn unter dem Atlas und dem Damast kam ein stinkender Körper zum Vorschein, ein mit trockener Haut beklebter Totenschädel, der die gelben Zähne bleckte. Die Männer stoben nach allen Seiten, der Körper zerfiel augenblicklich zu Staub, samt all den Bändern und Rüschen, und die Straße nannte man seitdem die Straße der Enttäuschung. Das erzählte die Köchin und stemmte – ich sah es durch das Schlüsselloch der Speisekammer – die Hände in die Seiten, kräftig und rotbackig war sie, das Gesicht von den Funkenbündeln erhellt, und der Scherenschleifer, der die Geschichte nicht kannte, weil er außerhalb von Madrid wohnte, legte nacheinander die Messer und Scheren an den rotierenden Stein und nickte und brummte zwischen einem Knirschen des Eisens und dem nächsten. Aber mein Vater – davon bin ich überzeugt, auch wenn er es nie direkt gesagt hat, auch wenn er es nicht mit all den anderen Beschimpfungen ausgespuckt hat, mit denen er mich überhäufte –, mein Vater war immer der Meinung, die Straße heiße so, weil ich, Javier, in einem Haus dieser Straße zur Welt gekommen bin, im Alkoven im Obergeschoss, in der Wohnung des Porträtmalers und Vizedirektors der Königlichen Teppichmanufaktur Santa Bárbara und bald darauf des königlichen Hofmalers Francisco Goya y Lucientes.
Francisco spricht
Als Javier auf die Welt kam, noch in der Calle del Desengaño, lebten die älteren Kinder nicht mehr; weder der Erstgeborene, Antonio, noch Eusebio, noch der kleine Vincente, noch Francisco, noch Hermengilda; María de Pilar half nicht einmal ihr Name, mit dem wir sie der Obhut Unserer Lieben Frau von Saragossa anvertraut hatten. Ich habe es Javier nie gesagt – denn ich bemühte mich damals, die Kinder nicht zu verhätscheln, meinen Sohn zu einem richtigen Mann zu erziehen, nicht so wie jetzt, wo mein Herz weich geworden ist und ich ein alter, sentimentaler Stinkstiefel bin, außerdem stocktaub, was den Kinderlärm erträglicher macht –, also: Ich habe es Javier nie gesagt, aber als La Pepa ihn geboren hatte und erschöpft im Bett lag, als schwarze Haarsträhnen an ihrer feuchten Stirn klebten, auf der wie ein großer Fleck aus Bleiweiß das durchs Fenster einfallende Licht lag, da lief ich in die Stadt und schrie allen Bekannten und Unbekannten entgegen, dass es in Madrid keinen schöneren Anblick gibt als diesen Jungen.
Danach versuchten wir es weiter, weil wir damit rechneten, dass auch er uns nicht lange erhalten bleiben würde. Meine Gattin Josefa Bayeu oder einfach La Pepa, Gott hab sie selig, verbrachte, wenn sie sich nicht gerade herausputzte, die Zeit im Bett – entweder als Wöchnerin oder, wenn sie eine Fehlgeburt hatte, mit immer neuen Blutungen, genau wie Königin Maria Luisa, ein totes Kind nach dem anderen. Ich habe sogar einmal zu zählen versucht, ich kam auf ungefähr zwanzig. Aber leider überlebte nur Javier. Leider nur und leider Javier.
II
Die Alten
Das Alter ist abscheulich. Sein Geruch, seine Struktur. Triefende Augen, entzündete Bindehaut, ausgedünnte Wimpern und Brauen, schlaff herabhängendes Fleisch, Flechten. Seine Gier beim Ausschlecken der Reste, seine Gefräßigkeit, das laute Schmatzen, wenn es sich auf die Schüssel stürzt.
Man sagt, es sei schön, zu zweit zu altern. Ist es schöner, in Gesellschaft wurmstichig und räudig zu werden als allein? Von allen Versammlungen der Welt ist die schlimmste der Sabbat der Alten, zu dem die Jungen, statt leichtfüßig herbeizueilen, mit Masken faltiger Haut auf den glatten Gesichtern angeschlurft
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