Scarpetta Factor - Thriller
»Sitz«, sagte Scarpetta und belohnte sie.
»Wenn es bei Menschen nur auch so einfach wäre«, meinte sie und nahm die Schürze ab. »Komm«, wandte sie sich an Benton. »Mac braucht ein bisschen Bewegung.«
Nachdem Benton die Leine geholt hatte, zogen sie ihre Mäntel an. Sie führten Mac die abgetretene Holztreppe hinunter und durch die große Garage, in der sich so viele Einsatzfahrzeuge und Ausrüstungsgegenstände drängten, dass man sich förmlichhindurchschlängeln musste. Durch eine Seitentür verließen sie das Gebäude. Auf der anderen Seite der Tenth Avenue befand sich ein kleiner Park neben der Kirche Saint Mary. Scarpetta und Benton steuerten darauf zu, weil gefrorenes, dürres Gras angenehmer unter den Füßen war als Asphalt.
»Lagebesprechung«, sagte Benton. »Du hast zwei Tage lang gekocht.«
»Ich weiß.«
»Drinnen wollte ich es nicht erwähnen«, fuhr er fort, während Mac zu schnuppern anfing und ihn erst zu einem kahlen Baum und dann zu einem Busch zog. »Die anderen werden sowieso den ganzen Abend über nichts anderes reden. Ich denke, wir sollten sie lassen und uns nach einer Weile verdrücken. Wir brauchen Zeit für uns. Die ganze Woche waren wir nicht miteinander allein.«
Sie hatten auch nicht viel geschlafen. Die Ausgrabungen im Keller der Villa Starr hatten einige Tage in Anspruch genommen, denn der LABRADOR hatte genauso eifrig geschnüffelt, wie Mac es gerade tat, und Scarpetta zu einigen verwesenden Blutspuren geführt. Anfangs hatte sie befürchtet, dass mehrere Leichen in den beiden Ebenen des Kellergeschosses vergraben sein könnten, wo Rupe Starr seine Autos geparkt und gewartet hatte. Doch das war nicht der Fall gewesen. Letztlich hatten sie nur Hannah gefunden, und zwar unter dem Beton in der Montagegrube. Sie war auf ganz ähnliche Weise gestorben wie Toni Darien, nur dass der Täter bei ihr gewaltsamer und mit größerer Leidenschaft vorgegangen war. Hannah war sechzehnmal auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen worden, vermutlich mit derselben Waffe wie Toni, einem Schalthebel, dessen großer Stahlknauf die Form und den Umfang einer Billardkugel hatte.
Der Schalthebel gehörte zu einem Oldtimer der holländischen Marke Spyker, den Rupe laut Lucy vor etwa fünf Jahren restauriert und verkauft hatte. Die darauf sichergestellteDNA stammte von verschiedenen Personen, von denen drei eindeutig hatten identifiziert werden können: Hannahs, Tonis und die des Mannes, der die beiden Frauen Scarpettas Ansicht nach erschlagen hatte – Jean-Baptiste Chandonne, alias Bobby Fuller, angeblich ein amerikanischer Geschäftsmann. Chandonne hatte ihn frei erfunden, wie so viele Rollen, in die er im Laufe der Jahre geschlüpft war. Scarpetta hatte Chandonne zwar nicht selbst obduziert, war jedoch dabei gewesen, weil sie glaubte, dass es für ihre Zukunft wichtig war, sich der Vergangenheit zu stellen. Dr. Edison hatte den Fall übernommen, eine Autopsie, wie sie jeden Tag in der New Yorker Gerichtsmedizin stattfand. Scarpetta konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Chandonne darüber sehr enttäuscht gewesen wäre.
Er war nichts Besonderes und wurde genauso behandelt wie die anderen Leichen, die hier auf dem Tisch landeten. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sein Körper überdurchschnittlich viele Hinweise auf plastische Chirurgie und Schönheitsoperationen aufwies. Die Eingriffe, denen er sich unterzogen hatte, hatten sich vermutlich über Jahre hingezogen und lange, qualvolle Genesungszeiten zur Folge gehabt. Scarpetta konnte sich die Schmerzen kaum vorstellen, die es bedeutet hatte, sich die gesamte Körperbehaarung mit dem Laser entfernen und alle Zähne überkronen zu lassen. Doch wahrscheinlich war er mit dem Ergebnis zufrieden gewesen, denn als sie ihn sich im Autopsiesaal gründlich angesehen hatte, konnte sie kaum Hinweise auf seine früheren Deformierungen feststellen. Nur ein Narbengewirr, das beim Rasieren der Umgebung der Ein- und Austrittswunde von Bentons Neun-Millimeter-Geschoss zum Vorschein gekommen war.
Jean-Baptiste Chandonne war tot. Scarpetta war sicher, dass es sich um ihren Erzfeind handelte. DNA log nicht. Nun konnte sie endlich darauf vertrauen, dass er niemals wieder auf einer Parkbank, in der Gerichtsmedizin, in einer Villaoder an einem anderen Ort in Erscheinung treten würde. Hap Judd war ebenfalls nicht mehr am Leben. Er hatte zwar nach Kräften versucht, seine nekrophilen Neigungen und Verbrechen zu vertuschen, aber eine große Anzahl
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