Schadrach im Feuerofen
Vereinigten Staaten ebenso wie alle anderen Nationen von einer nationalen Unterorganisation des Permanenten Revolutinonsrats regiert werden, und daß der einsiedlerische alte Mann, einst Begründer der radikalrevolutionären Staatspartei, als Vorsitzender des Revolutionsrates längst zu einem den Alltagsgeschäften entrückten lebenden Mythos geworden ist, der indirekt regiert und für Schadrach Mordechais ehemalige Landsleute lediglich eine Art entfernter Vaterfigur darstellt. Wahrscheinlich denkt kein Amerikaner darüber nach, daß der Vorsitzende die Autorität des Permanenten Revolutionsrates verkörpert und somit die oberste politische Instanz ist. Nicht, daß viele Amerikaner beunruhigt wären, wenn sie erführen, daß sie einem alten Mongolen Loyalität schuldeten. Es ist ihnen ziemlich gleichgültig, wer das politische System repräsentiert, das die Konkursverwaltung der alten Welt übernommen hat. In einer erschöpften, zerbrochenen, an Organzersetzung sterbenden Menschheit herrscht allgemein Erleichterung darüber, daß es den Revolutionsrat und seine straff organisierte Verwaltung überhaupt gibt, eine Instanz, die sich wenigstens um eine gerechte Verteilung des Mangels bemüht.
Plötzlich verschwindet Philadelphia vom Bildschirm und wird von einer idyllischen Tropenszene ersetzt, die einen halbmondförmigen weißen Strand, gefiederte Palmwedel und gelb und scharlachrot blühenden Hibiskus zeigt. Menschen sind nicht zu sehen. Nachdem Schadrach die Idylle eine kleine Weile betrachtet hat, geht er weiter.
Durch eine schwere, mit einheimischer Schnitzarbeit verzierte Tür betritt er eine geräumige Diele, die als Empfangszimmer und Warteraum für Besucher dient und mit einfachen chinesischen Möbeln ausgestattet ist. Der einzige Luxus sind die alten Seidentapeten an den Wänden. Von hier gehen mehrere Türen aus. Linker Hand gelangt man ins Schlafzimmer des Vorsitzenden, aber Schadrach geht nicht hinein. Es ist am besten, den alten Mann heute schlafen zu lassen, bis er von selbst aufwacht. Er geht an den privaten Arbeits- und Wohnräumen des Vorsitzenden vorbei und steigt, einer plötzlichen Eingebung folgend, die innere Wendeltreppe zum Sitzungssaal des Revolutionsrates hinab. In den angrenzenden Zimmerfluchten befinden sich die Arbeitsräume der Ratsmitglieder, die zentrale Nachrichtenabteilung und die Verbindungsbüros zu den Ministerien. Mit einigem Recht kann man dieses Geschoß als das Nervenzentrum der planetarischen Regierung betrachten. Bei Tag und Nacht gehen hier die Meldungen von Parteikadern in allen Städten der Erde ein; und bei Tag und Nacht finden Besprechungen und Anhörungen statt, werden Entscheidungen getroffen und gehen in Form von Direktiven an die Ministerien und die nationalen Organe des Revolutionsrates hinaus. Alle Anträge auf Behandlung mit der kostspieligen Ronkevic-Immunisierung werden hier geprüft und entweder genehmigt oder abschlägig beschieden. Schadrach Mordechai ist kein politischer Mensch, und was in den Räumen des Revolutionsrates vorgeht, bekümmert ihn wenig. Da aber einige Mitglieder zu seinen Patienten zählen, kommt er des öfteren hierher und hat dann Gelegenheit, das geschäftige Treiben zu beobachten.
Die frühen Morgenstunden sind gewöhnlich am ruhigsten, und auch jetzt scheint nicht viel los zu sein. Von den zwölf Plätzen in der Nachrichtenzentrale sind nur drei besetzt. Schadrach ist sich mit Dankbarkeit bewußt, daß dies eine stille Zeit ist. Die aus seiner Sicht einzige akute Krise in der weiten Welt ist diejenige in des Vorsitzenden Leber, und da wird bald Abhilfe geschaffen.
Als er am Sekretariat vorbeikommt, hört er sich beim Namen gerufen. Er macht halt, wendet sich um und sieht Mangu, den designierten Nachfolger des Vorsitzenden, der eben aus dem Sekretariat tritt.
»Wird der Vorsitzende heute operiert?« fragt Mangu besorgt.
Schadrach nickt. »In ungefähr drei Stunden.«
Mangu nickt geistesabwesend, dann blickt er stirnrunzelnd zu Boden. Er ist ein stattlicher, noch jüngerer Mann von kräftiger Statur und mit dem kantigen Gesicht des Nordchinesen. Sein Blick ist wach und von gewinnender Offenheit. Er hat eine steile Karriere in der Funktionärshierarchie hinter sich, doch hat es den Anschein, als fühle er sich seit seiner Berufung zum Stellvertretenden Vorsitzenden nicht mehr ganz ausgelastet. Im Moment wirkt er angespannt und besorgt.
»Wird es gut ausgehen? Wie hoch ist das Risiko?«
»Seien Sie unbesorgt«, antwortet Schadrach.
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