Schadrach im Feuerofen
gewissenhaft ist, ein tüchtiger Funktionär und Verwalter, daß es ihm jedoch an schöpferischer Fantasie und Originalität gebricht. Doch mag er auch trivial sein, er ist der beste Mensch im ganzen Revolutionsrat und alles andere als verachtenswert, und Schadrach empfindet echtes Mitgefühl für ihn. Der arme Mangu macht sich Sorgen, er könne eines schönen Tages unvorbereitet auf dem Stuhl des Vorsitzenden landen! Fühlt er nicht, daß er niemals – nicht in einem Jahr, nicht in zehn und nicht in hundert Jahren – ein geeigneter Nachfolger des Vorsitzenden sein wird, daß er aus seinem Wesen heraus unfähig ist, die furchtbare Macht auszuüben, die zu erben er vorgeblich ausersehen ist? Anscheinend nicht. Sonst hätte er, in Kenntnis seiner eigenen Grenzen, sich die Frage vorgelegt, was der Vorsitzende wirklich mit ihm im Sinne haben mag. Ihn zum vollwertigen Nachfolger auszubilden? Nein, gewiß nicht. Um seine Popularität auszunutzen und eines Tages seine Identität herauszureißen und wegzuwerfen, damit sein Körper zur Wohnung für die finstere Seele und den verschlagenen Verstand des alten Mannes werde, wenn der geflickte Greisenkörper nicht mehr repariert werden kann. Der arme Mangu. Schadrach fröstelt.
Eilig kehrt er in sein eigenes Arbeitszimmer zurück, schließt die Tür und sperrt sie ab.
Kaum fünf Minuten später wird in seinem linken Oberschenkel, nahe der Hüfte, wo er die Gehirnaktivität des Vorsitzenden empfängt, ein plötzliches scharfes Zupfen spürbar. Vier Zimmer weiter ist der alte Mann erwacht.
2
Inmitten des oft hektischen und aufreibenden Lebens im Regierungspalast stellt Dr. Mordechais Arbeitszimmer eine Insel der Ruhe dar. Der kaum mittelgroße Raum hat drei Zugänge, die jedoch nur von ihm selbst und vom Vorsitzenden benutzt werden können. Einer führt ins private Speisezimmer des Vorsitzenden, einer verbindet das Arbeitszimmer mit Schadrachs eigener Wohnung, und der dritte öffnet sich zum zweigeschossig angelegten Operationsraum für Regierungsmitglieder, hohe Funktionäre und die Beschäftigten des Regierungspalasts.
In der Zurückgezogenheit seines Arbeitszimmers erfreut sich Schadrach Mordechai einiger Augenblicke des Friedens, bevor er sich in die Aufregungen des Tages stürzt. Obwohl der Vorsitzende aufgestanden ist, besteht keine Notwendigkeit zur Eile. Schadrachs eingepflanzte Signalgeber sagen ihm, daß die zwei persönlichen Diener in Dschingis Khan II. Maos Schlafzimmer gekommen sind, dem alten Mann auf die Füße geholfen haben und ihm nun bei der aus behutsamen Armschwingen und Atemübungen bestehenden Frühgymnastik assistieren, die der alte Mann auf Anraten seines Leibarztes jeden Morgen getreulich absolviert. Als nächstes werden sie ihn baden und rasieren, dann werden sie ihn ankleiden und schließlich ins Speisezimmer geleiten. Heute wird ihn wegen der bevorstehenden Operation allerdings kein Frühstück erwarten. Trotzdem bleibt Schadrach ungefähr eine Stunde, ehe er sich seinem Schützling zuwenden muß.
Sehern der bloße Aufenthalt im Arbeitszimmer gibt ihm neuen Auftrieb. Die dunkle, reich geschnitzte Wandtäfelung, die gedämpfte Beleuchtung, der aufgeräumte Schreibtisch aus exotischem Holz, das feine Bücherregal aus Glasstäben und dünnen Travertinplatten, worin er seine unschätzbare Bibliothek klassischer medizinischer Werke verwahrt, die eleganten Vitrinen, die seine beachtliche Sammlung altertümlicher medizinischer Instrumente beherbergen – alles das ist für ihn eine ideale Umgebung, eine vollkommene Zuflucht für den Arzt, der er gern sein würde und gelegentlich sein darf, den Meister der hippokratischen Künste, den Erhalter und Verlängerer von Menschenleben. Nicht, daß dieser Raum ein Ort für die praktische Ausübung der Medizin wäre: die einzigen Instrumente hier sind altertümlich, und was an Geräten vorhanden ist, sind romantische und sonderbare Apparate, seltsam geformte Becher, Skalpelle und Lanzetten, Schröpfköpfe, Messer für den Aderlaß und Brenneisen, Ophthalmoskope und frühe und ungenaue anatomische Modelle, chirurgische Sägen, Blutdruckmesser, elektrische Wiederbelebungsmaschinen, Flaschen mit verrufenen Gegengiften, Trepanierbestecke, ein Mikrotom, Geburtshelferzangen und andere Relikte aus unschuldigeren Zeiten. Die meisten dieser Gegenstände hat er in den vergangenen fünf Jahren gesammelt, nicht zuletzt, um eine berufsmäßige Verwandtschaft zu den großen Ärzten der Vergangenheit herzustellen, denen
Weitere Kostenlose Bücher