Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
mich aufmunternd an.
»Danke.« Er nickte und trat wieder
einige Schritte zurück.
Meine Hände fühlten sich fremd unter
dem Latex an und ich konnte nicht aufhören zu zittern.
Vorsichtig näherte ich mich dem
Gesicht auf dem Tisch, seinem Gesicht. Meine Hand glitt an seiner Wange entlang
und ich erschrak bei der Kälte, die meine Haut durchfuhr. Ich spürte die
kleinen Bartstoppeln an seinem Kinn, die wie feine Nadeln durch das Latex
stachen.
Mit dem Zeigefinger folgte ich dem
Verlauf seiner Nase. Sie hatte einen kleinen Knick direkt am Nasenansatz, den
man kaum sah, aber spüren konnte. Vor drei Jahren hatte ich etwas zu schwunghaft
den oberen Küchenschrank geöffnet ohne dabei zu bemerken, dass er direkt
dahinter gestanden hatte. Die Kante hatte ihn mittig im Gesicht getroffen und
ihm dabei die Nase gebrochen – das wohl schlimmste Ergebnis meiner
Tollpatschigkeit.
Nie wieder würde er die Nase rümpfen,
weil ich ungeschickt durch die Wohnung marschierte und mich schier an jeder
Ecke stieß.
Seine Haare schmiegten sich ungewöhnlich
ordentlich um sein Gesicht. Normalerweise war es ein ungebändigtes Meer aus
schwarzen, kurzen Wellen, das sich jeglicher Kontrolle entzog. Ich fuhr mit der
Hand durch seine Haare, um es wieder mit Leben zu füllen. Behutsam nahm ich eine
der vorderen Strähnen und legte sie ihm auf die Stirn. Da war sie immer gewesen
und da sollte sie auch wieder sein.
Nie wieder würde er darüber
schimpfen, dass seine Haare ihr eigenes Leben führten und damit sein eigenes erschwerten.
Mein Blick glitt zu seinen Augen. Sie
waren geschlossen, doch darunter befanden sich die dunklen Perlen, die immer
auf mich Acht gegeben hatte. Die mich mal mit Fürsorge, mal mit Glück, mal mit
Witz und Lachen, mal mit Wut und Zorn, aber immer mit Liebe angestrahlt hatten.
Augen, denen ich nie etwas verheimlichen konnte, die jede meiner Bewegungen, jeden
meiner Gesichtsausdrücke, jede meiner Stimmungen kannten. Jeden anderen Blick
der mich traf konnte ich ausblenden, als würde er nicht mir gelten. Nur seinem
musste ich immer nachgeben. Ich spürte ihn auf meiner Haut und augenblicklich
wusste ich, dass seine volle Aufmerksamkeit mir galt.
Nie wieder würden mich diese Augen mustern
oder anstrahlen.
Meine Finger berührten seine Lippen.
Voll und rot schimmerten sie und ich fuhr sein Lächeln entlang. Sie mussten
sich nicht öffnen, damit ich wusste, was er sagen wollte. Seine ruhige, tiefe
Stimme war immer mein Anker gewesen, hatte mich im größten Chaos eingefangen.
Ein Wort – und Ruhe breite sich in mir aus. Ein Wort – und mein Herz machte
Sprünge vor Freude. Drei Worte – an denen ich mich nicht satthören konnte,
obwohl ich genau wusste, was er für mich empfand.
Nie wieder würde ich die Wärme seiner
Lippen auf den meinen spüren. Nie wieder würden sie das Tor zu seiner Stimme sein.
»Ich liebe dich.«
Ich küsste meine Finger, legte sie
auf seine Lippen und verschloss sie mit diesem letzten Kuss.
* * *
Zusammengesunken saß ich im Flur. Die
kalten Fliesen saugten mir jegliche Wärme aus dem Körper.
Wie lange saß ich hier schon? Wie war
ich hierhergekommen?
Alles war eine einzige trübe Blase
aus Bewegungen und Floskeln gewesen, die meine Lippen verließen und an deren
Inhalt ich mich kaum mehr erinnerte.
Hatte der Polizist nicht etwas von
einem Taxi erzählt? Er hatte gefragt, ob er jemanden verständigen solle, der
mir in dieser schweren Zeit bestand. Schwere Zeit – es war so viel mehr als
das.
Auf der Rückfahrt hatte ich den Regen
betrachtet, der unermüdlich an die Fensterscheibe prasselte. Immer wieder
hatten sich kleine Rinnsale gebildet, die getrennt die Scheibe hinunter geflossen
waren und sich manchmal zu einem großen Strom vereinigt hatten. Das Licht der
vorbeifahrenden Autos hatte sich darin gebrochen und die Farben der Nacht
reflektiert.
Als ich das Taxi verlassen hatte,
stand ich direkt vor der Eingangstür. Der Regen hatte nicht aufgehört – unermüdlich,
monoton, mächtig, betäubend. Irgendwann hatte ich nach meinem Schlüssel
gegriffen, die Eingangstür, die Tür zu unserer Wohnung, der Flur.
Meine Sachen waren durchnässt, meine
Haare inzwischen nur noch klamm und um meine Schuhe hatten sich kleine Seen aus
Dreck und Wasser gebildet. Hier saß ich nun, unfähig mich zu bewegen, zu
denken, zu atmen.
»Rufen Sie eine Freundin an. Sie
sollten heute Nacht nicht allein sein!«, hatte der Polizist mir eindringlich
versucht zu erklären und hatte dabei so
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