Die Hudson Saga 03 - Dunkle Träume
PROLOG
M anchmal glaube ich, Mama Arnold nannte mich Rain, weil sie wusste, dass ich so viele Tränen vergießen würde.
Andere Kinder hänselten mich oft und sangen: »Rain, rain, go away. Come again another day.« Als ich älter war, riefen mir Jungen in der Schule oder auf der Straße zu: »You can rain on me anytime, girl.« Keiner von ihnen wagte das, wenn mein Bruder Roy in der Nähe war, aber er wusste, dass sie es oft taten, wenn er nicht da war. Einmal wurde er so wütend darüber, dass er Mama Arnold anschrie und wissen wollte, warum sie mich Rain genannt hatte.
Als sie ihn daraufhin anschaute, stand ihr die Unschuld und Verwirrung ins Gesicht geschrieben.
»Wo ich herkomme«, erwiderte sie ruhig, »wo meine Familie herkommt, ist Regen etwas Gutes, etwas Wichtiges. Ohne ihn würden wir verhungern, Roy. Diese Art Hunger hast du nie kennen gelernt, Gott sei Dank, aber ich erinnere mich daran. Wir nannten ihn Grundhunger, denn dann war der arme Bauch bis zum Grund leer.
Und ich erinnere mich daran, diesen ersten gesegneten Tropfen gespürt zu haben nach Tagen und Tagen andauernder Trockenheit. Mein Daddy und meine Mama waren so glücklich, dass sie einfach
im strömenden Regen standen und sich völlig durchweichen ließen. Ich erinnere mich an einmal«, fuhr sie lächelnd fort, »als wir uns alle an den Händen hielten und im Regen tanzten. Wir wurden alle bis auf die Knochen durchnässt, aber niemandem machte das was aus.Vermutlich sahen wir aus wie ein HaufenVerrückter, aber der Regen bedeutete Hoffnung und genug Geld, um zu kaufen, was wir brauchten.
Manche Leute verlegten sich aufs Beten und auf alle möglichen Rituale, die Regen bringen sollten. Den ersten Regenmacher sah ich, als ich etwa zehn war. Er war ein kleiner dunkler Mann mit Augen wie glänzende Lakritzkugeln. Alle Kinder glaubten, er sei elektrisch geladen, weil er so oft vom Blitz getroffen worden war. Deshalb hatten wir panische Angst davor, dass er uns berührte.
Die Kirche bezahlte ihn. Nichts, was er anstellte, brachte auch nur einen Tropfen Regen.Als er ging, sagte er, wir müssten den Herrn irgendwie schrecklich erzürnt haben, dass er so unnachgiebig war. Weißt du, was das in einer Gemeinde bewirkt, Roy? Jeder starrt den anderen vorwurfsvoll an und gibt seinen Sünden die Schuld an diesen Problemen. Ich habe mal von einer Gemeinde gehört, die eine ganze Familie vertrieben hat, weil sie glaubten, die wäre verantwortlich für die anhaltende Dürre.
Als deine Schwester geboren wurde und ich sah, wie schön sie war, dachte ich, meine Güte, sie ist so hübsch und so voller Hoffnung für uns wie ein
guter Regen. Und da entschied ich, dass Rain ein guter Name sei.«
Roy starrte sie offensichtlich überwältigt an. Beneatha senkte mürrisch den Blick, weil sie nach einer Verwandten benannt worden war, und das war nicht viel im Vergleich zu dem, was Mama Arnold über mich gesagt hatte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, ich trüge eine größere Verantwortung wegen meines Namens. Mama Arnold dachte, ich würde Glück bringen.
Heute als ich mich anzog, um Großmutter Hudsons Grab zu besuchen, fand ich, Mama Arnold hätte keinen größeren Irrtum begehen können. Anscheinend brachte ich jedem nur Unglück. Natürlich dachte Großmutter Hudson das nicht, als sie starb.
Vielleicht tat sie es am Anfang, als meine leibliche Mutter arrangierte, dass ich – angeblich aus Wohltätigkeit – bei meiner Großmutter lebte. Auf diese Weise konnte meine leibliche Mutter, Megan Hudson Randolph, selbst vor ihrem Mann und besonders ihren beiden Kindern, Brody und Alison, geheim halten, dass sie auf dem College schwanger geworden war und mich zur Welt gebracht hatte. Meine Großeltern hatten meinem Stiefvater Geld bezahlt, um mich direkt nach der Geburt aufzunehmen. Jahre später hatte Großmutter Hudson mich zögernd aufgenommen wie eine Mutter, die die Sünden ihres Kindes verantworten und büßen muss.
Mama Arnold war viel kranker gewesen, als irgendeiner von uns wusste, und nachdem meine jüngere Schwester Beneatha ermordet worden war und Ken, mein Stiefvater, davongelaufen und wegen bewaffneten Raubüberfalls verhaftet worden war, wollte Mama Arnold sichergehen, dass ich in Sicherheit war. Wenn ich jetzt an den Tag zurückdenke, an dem sie meine leibliche Mutter zwang, uns zum Mittagessen zu treffen, und sie davon überzeugte, dass sie mich zurücknehmen musste, wird mir klar, eine welch starke Frau Mama Arnold wirklich gewesen war.
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