Schatten eines Gottes (German Edition)
geworden.«
Octavien nickte. »Ich hoffe, Ihr wacht bald auf aus Eurem Traum. Und ich hoffe, Euer Erwachen wird nicht allzu hart sein.«
»So redet ausgerechnet jemand, der wahrscheinlich in jeder Stadt eine andere hat!«, zischte Agnes. »Ihr ärgert Euch doch grün und blau, dass Ihr Euch an mir die Zähne ausbeißt, deshalb müsst Ihr salbadern wie ein Pfaffe.«
Octavien ließ die Kränkung regungslos über sich ergehen. In diese kritische Stimmung platzte ihr Schrei: »Da drüben bei Eurem Pferd! Da macht sich jemand an Euren Satteltaschen zu schaffen!«
Octavien drehte sich um. »Jesus! Der rothaarige Teufelsbraten!«, entfuhr es ihm, und er sprang mit großen Sätzen auf ihn zu.
»Heilige Jungfrau! Der Kerl mit den weißen Handschuhen!«, kreischte der Junge. Es war niemand anderes als Arik.
»Diesmal entkommst du mir nicht, du diebische Elster!«, schrie Octavien und stürzte sich mit gezogenem Schwert auf ihn. Da flogen ihm die Tränen der heiligen Agathe an den Kopf. Und bevor er sich umwenden konnte, traf ihn ein Kiesel im Rücken, der so manche Fehlgeburt verhindert hätte.
»Ihr wollt den Jungen doch nicht gleich umbringen? Grobian, Schlächter, Kindermörder!«
Octavien drehte sich verblüfft um. Das genügte Arik. Er schlug einen Haken und flitzte an Agnes’ Stand vorbei. Dabei bemerkte sie, wie er einen Gegenstand in den Holunderbusch warf. Octavien warf sich herum und wollte dem Jungen hinterherhetzen, doch dann besann er sich. Etwas anderes war jetzt wichtiger. Hastig durchwühlte er seine Satteltaschen. Wo war die Tasche mit dem Pergament? Er hatte es in braunes Leder eingenäht. Er fand es nicht. Die Furcht saß ihm wie ein Eisklumpen in der Kehle. Offenbar hatte der Junge es für eine gefüllte Geldbörse gehalten.
Octavien schwang sich auf sein Tier. »Ich muss dem Jungen nach!«, schrie er Agnes noch zu, dann war er hinter im Tor verschwunden.
Agnes starrte ihm wütend hinterher. Wie konnte Octavien sie einfach stehen lassen, um einen kleinen Dieb zu erwischen? War er so rachsüchtig? Bedeutete es ihm so viel, ein hungriges Kind zu bestrafen? Sie war sehr enttäuscht. Das Diebesgut hatte der Junge in seiner Angst weggeworfen. Agnes wusste, weshalb. Hätte er es noch bei sich gehabt, wäre er als Dieb überführt und hätte eine Hand oder vielleicht sogar sein Leben verloren. Sie ging hinter den Holunderbusch und fand ein braunes Päckchen. Sie nahm es an sich. Octavien würde bald zurückkommen, dann würde sie es ihm zurückgeben. Aber nur, wenn er dem Jungen nichts getan hatte.
Die Stunden vergingen, es dämmerte bereits, aber Octavien war nicht erschienen.
Fahr zur Hölle, Octavien!,
dachte sie.
Warum zerreißt du mein Herz? Du bist nicht besser als Kuno von Eibenau. Ich hasse dich!
Etwas später in ihrer Kammer schlitzte sie das zugenähte Leder mit einem Messer auf. Auch sie vermutete Geld darin. Sie war enttäuscht, als es nur Pergamente waren. Doch dann meinte sie zu begreifen, weshalb es Octavien so eilig gehabt hatte. Diese Pergamente mussten für ihn von großer Wichtigkeit sein. Neugierig löste sie die Schnur und rollte eins der Pergamente auseinander. Es war schon brüchig, und aus der einen Ecke löste sich ein Stück und fiel herab. So eine Schrift hatte sie noch nie gesehen. Vorsichtig schloss sie es wieder und besah sich das andere. Es war auf Latein abgefasst, das konnte sie erkennen, aber nicht verstehen. Schulterzuckend packte sie die Schriftrollen wieder in das Lederbehältnis. Wenn Octavien den Jungen erwischte, würde dieser verraten, dass er sie in den Holunderbusch geworfen hatte. Wenn Octavien die Schriften wiederhaben wollte, dann musste er sich zu ihr bequemen, und dann würde er in ihrer Schuld stehen.
***
Octavien war wie ein Wahnsinniger durch die Mainzer Straßen und Gassen galoppiert. Er riss eine Karre mit Rüben um, einer Frau fiel der Wäschekorb aus der Hand, Bettler stoben auseinander, als sie den wilden Reiter herannahen sahen, Büttel fassten ihre Spieße fester, sprangen zur Seite und starrten ihm hinterher. Das schwarz-weiße Tuch auf seinem Gewand hielt sie davon ab, ihn festzunehmen. Octavien fand nicht die Spur von dem Knaben. Es gab genügend enge Gässchen, in die er ihm mit seinem Rappen nicht folgen konnte. In seiner Verzweiflung ritt er zum nördlichen Stadttor und befragte die Wächter. Sie hatten viele Kinder gesehen, zu viele. Sie zeigten auf die Wiesen und Felder, die sich vor der Stadtmauer ausbreiteten. »Sucht ihn
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