Schatten eines Gottes (German Edition)
lagern.
Die zumeist ärmlich gekleideten Kinder, viele buchstäblich in Lumpen, boten keinen farbenfreudigen Anblick. Nur hier und da sorgte ein bunter Kreuzflicken für Abwechslung in dem farblosen Einerlei. Ein emsiges Geschnatter ging von den erdfarbenen Grüppchen aus. Hier und da ging gemessenen Schrittes ein Mönch durch ihre Reihen.
Agnes wurde unsicher. Sollte sie wirklich mit diesem Haufen mitziehen? Bestimmt sangen alle unterwegs halleluja und beteten ihr die Ohren voll. Doch es gab Schlimmeres. Weil sie sich zu keiner Entscheidung durchringen konnte, beschloss sie, das Baumorakel zu befragen. Noch am selben Tag ging sie in das nahe gelegene Wäldchen und schnitt von den Büschen und Bäumen kleine Zweige ab, kürzte sie auf die Länge ihrer Hand und versah jeden Zweig mit einem Zeichen. Sie fügte die Holzstäbe zu einem Bündel, konzentrierte ihre Gedanken auf die Zukunft und ließ das Stabbündel auf den Erdboden fallen. Neugierig beugte sie sich darüber.
Alle Stäbe lagen gerade ausgerichtet, ihre markierten Enden wiesen alle nach Süden, und im Süden lag Rom. Wie eine Pfeilspitze ragte der Kiefernzweig hervor, der vor allem Schutz auf Reisen gewährte. Neue Erfahrungen versprach die Buche, die Eberesche wendete Unglücksfälle ab, und die Eiche verlieh Sicherheit und Stärke.
Agnes war zufrieden mit dem Ergebnis. Nun wusste sie, was das Schicksal für sie bereithielt. Sie musste sich nur für ein paar Wochen dem Kreuzzug anschließen. Die im Holz verborgenen alten Mächte hatten ihr Versprechen abgegeben, sie dabei zu unterstützen.
Gleich am nächsten Morgen packte sie ihre Waren in einen Beutel und warf sie in einen mit Gestrüpp zugewachsenen Graben. Sie konnte die Sachen schlecht mitschleppen. In Rom würde sie neue finden. Ihren Unterstand, den sie inzwischen mit einer Plane vollständig überdacht hatte, schenkte sie einem alten, verkrümmten Mann, der bei jedem Wetter Kräuter und Obst aus seinem kleinen Garten unweit der Mauer auf dem bloßen Erdboden anbot. Er weinte vor Dankbarkeit und küsste ihr die Hände.
Ihr Kleid war an einigen Stellen zerrissen und fleckig. Gut so. Das würde sie nicht von den Kreuzzüglern unterscheiden. In seinen Saum nähte sie ihr Goldstück und weitere Münzen ein. Ihr schönes, kastanienbraunes Haar verbarg sie unter einem Tuch und schwärzte sich das Gesicht mit etwas Ruß.
Als sie ihre kleine Kammer verließ, klopfte ihr Herz doch etwas ängstlich. Was würde sie da draußen erwarten? Hier hatte sie sich eine kleine Welt geschaffen, kein Zuckerschlecken, aber ein Auskommen.
Sei nicht so verzagt,
schalt sie sich.
Du warst nie feige, du wirst es schon schaffen. Denk an das Baumorakel. Es war günstig.
Forsch schritt sie aus, bis sie hinter dem nördlichen Tor auf die Kinder traf.
Agnes fiel auf, dass die Kinder sich jeweils in Gruppen zusammengefunden hatten. Es hockten immer fünf bis zehn zusammen. Kinder aller Altersklassen waren hier versammelt. Auch Kleinkinder. Von diesen Gruppen wandte sie sich ab. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie würde keines der Bälger auf dem Rücken mitschleppen.
Mönche gingen herum und verteilten Essen. »Wo ist dein Kreuz?«, wurde sie angesprochen.
Agnes wurde rot. Daran hatte sie nicht gedacht. Sollte sie sich mit diesem Zeichen beflecken? Ja, durchaus, entschied sie, denn wer dem Christengott nicht anhängt, für den ist es nur ein Flicken, mehr nicht.
»Ich bin noch neu. Ich möchte mich Euch anschließen.«
Der Mönch wies auf eine Gruppe, die aus Jungen und Mädchen bestand. »Geh dorthin. Sie werden dir helfen.«
Agnes bedankte sich. Jungen waren gut, die konnte sie um den Finger wickeln. Sie lief zu der Gruppe. Die Kinder starrten sie kurz an.
»Ich soll mich bei euch melden.«
»Wir haben das Kreuz genommen und sind auf dem Weg nach Jerusalem«, sprach sie ein sommersprossiger Junge ernst an. »Bist du bereit, das Gleiche zu tun?«
»Weiß ich doch, deshalb bin ich hier.«
»Es ist ein langer, mühsamer Weg.«
»Macht mir nichts aus. Was muss ich tun?«
»Nichts, nur mitgehen und dem Auserwählten folgen.«
»Dem Auserwählten? Wer ist das?«
»Der Knabe, der uns anführt. Jesus selbst hat ihm den Auftrag dazu gegeben. Er heißt Nicholas. Aber wir nennen ihn den kleinen Propheten. Er ist uns bereits ein oder zwei Tagesreisen voraus. Er geht immer an der Spitze des Zuges.«
»Ich verstehe.«
Agnes zog es vor, darauf nichts zu erwidern. Misstrauisch musterte sie die anderen, aber niemand sah
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