Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
genug, um Weiterführende Schule zu sagen.«
Inger Johanne gab keine Antwort. Irgendetwas störte sie. Sie schloss die Augen und konnte sich an alles aus dem Wohnzimmer ganz genau erinnern, sogar an das Muster auf dem Silberbesteck. Die luftigen Gardinen mit dem eingewebten, fast unsichtbaren Eichblattmuster. Das Ölgemälde über dem Kamin mit dem kleinen Riss in der linken unteren Ecke, als ob es einmal zu Boden gefallen wäre. Den Seifenspender auf der Toilette, der vorhin noch bis an den Rand gefüllt gewesen war. Sie hatte das Waschbecken bekleckert, als sie sich die Hände wusch, und der schwere Blumengeruch hatte ihre Übelkeit zurückkehren lassen.
Sogar die Diele, den großen Raum, wo das Licht durch rechteckige Fenster unter der Decke im Nordosten fiel, und die Küche, wo sie sich vor allem darauf konzentriert hatte, jemanden mit polizeilichen Befugnissen zu erreichen, konnte sie sich detailliert in Erinnerung rufen.
»Oder?«, hörte sie Kalle Hovet fragen.
Es gab etwas, das ihr hätte auffallen müssen. Etwas, das sich verändert hatte, anders geworden war, das aber nichts mit der Trittleiter und der Taschenlampe zu tun hatte.
»Doch«, sagte sie und öffnete die Augen. »Ellen und ich waren zusammen auf der Weiterführenden Schule. Jon auch, aber den habe ich erst später besser kennengelernt. Aber wir sind nicht ...«
Sie musste überlegen, was sie waren oder nicht waren.
»... eigentlich nicht befreundet. Nicht mehr, meine ich. Wir sehen uns wohl zwei-, dreimal pro Jahr. Gute Bekannte, könnte man sagen. Ich wollte etwas früher kommen als die anderen, um noch zu helfen, aber auch um ... tja , catch up, sozusagen.«
»Ja, so ist das«, sagte Kalle Hovet lächelnd. »Das Leben geht dahin, und alles kommt Schlag auf Schlag, Ehe und Kinder und Karriere, und schwupp!«
Er schnippte mit den Fingern der freien Hand und tat abermals einen tiefen Zug an seiner Zigarette.
»Dann hat man kaum noch Freunde. Wenn man nicht aufpasst.«
Wenn man nicht aufpasst, dachte Inger Johanne.
»Das haben sie die ganze Zeit gesagt«, sagte sie.
»Was?«, fragte Kalle Hovet.
»Sie haben sich gegenseitig vorgeworfen, nicht auf Sander aufgepasst zu haben.«
Er ließ die Kippe auf den Boden fallen und trat sie nachdrücklich in den Kies zwischen den Schieferplatten.
»So ist das eben«, meinte er. »Wenn etwas Sinnloses passiert, machen wir uns gegenseitig Vorwürfe. Es ist dann zu schwer, die Verantwortung allein zu tragen, nehme ich an. Noch härter ist es, einzusehen, dass so was manchmal eben vorkommt. Dass das Leben keine Garantien bietet. Oh verdammt.«
Die letzten beiden Wörter hatte er geflüstert. Er richtete sich gerade auf und starrte zur Stadt hinüber.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was das für ein Gefühl ist. Ein Kind zu verlieren.«
Dann fuhr er herum und fing ihren Blick auf. Seine Augen waren goldbraun, mit schweren dunklen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel aneinanderstießen.
»Haben Sie Kinder?«
»Ja. Zwei Töchter. Die eine ist siebzehn, die andere siebeneinhalb. Sie heißen Kristiane und Ragnhild.«
Ein plötzliches Ziehen in der Brust ließ sie kurz nach Luft schnappen.
»Sie sind mit ihrem Vater in den Ferien. Dem Vater der Älteren, meine ich. Der Vater der Jüngeren ist ein anderer ... sie sind am liebsten zusammen, die Kinder. Kristiane ist nicht ganz wie andere ... wie andere Kinder, und mein Exmann hat lieber beide ...«
Sie strich sich mit einer nervösen Geste die Haare hinter die Ohren. Warum redete sie mit diesem Mann über Dinge, die ihn nichts angingen? Er hatte irgendetwas an sich. Etwas ungewöhnlich Freundliches, Müdes, vielleicht sogar ein wenig Verbrauchtes. Er erinnerte sie an einen dänischen Schauspieler, dessen Name ihr nicht einfiel.
Sie wollte nach Hause, nach Hause in den Hauges vei, sie wollte die Kinder anrufen und feststellen, wo Yngvar steckte. Er hatte seinen freien Abend, wie er das zu ihrem Ärger nannte, nutzen wollen, um in Kristianes Zimmer neue Bücherregale anzubringen und sich eine DVD anzusehen, für die Inger Johanne nicht das geringste Interesse aufbringen konnte.
Außerdem war da also diese Explosion.
Marianne hatte sicher übertrieben, wie immer, aber die Rauchsäule hing auch jetzt noch diffus und ein wenig schräg über der Stadt. Ein Unfall, möglicherweise. Gas. Es konnte kein Anschlag sein, wie der Polizeijurist gemeint hatte. Nicht hier. Nicht in Norwegen. Ein Unfall. Vielleicht gab es trotzdem Sondersendungen
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