Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Fingerabdruckexperten. Zahnärzte. Sie haben ihren Urlaub erstaunlich bereitwillig unterbrochen.«
»Das wäre ja auch noch schöner«, sagte der Mann schnaubend. »Im Moment gibt es hierzulande Tausende von Menschen, denen es erstaunlich viel schlechter geht. Wie spät ist es?«
Die Frau warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand hinter dem älteren Pathologen.
»Bald halb zwei«, sagte sie seufzend. »Ich habe die meisten nach Hause geschickt. Fünf Stunden Schlaf brauchen sie mindestens.«
Der Professor ließ endlich seinen Nacken los und bewegte den Kopf hin und her.
»Ich habe nie so sehr bedauert, dass ich nicht mit siebenundsechzig in Pension gegangen bin«, sagte er resigniert und lehnte sich an die weiße Wand, während er die Brille mit dem Zeigefinger ein wenig höher schob.
»Sie werden nie in Pension gehen«, sagte die Frau, ohne zu lächeln. »Sie werden uns alle quälen, bis Sie sterben.«
»Was jeden Moment passieren kann«, seufzte er. »So kommt es mir jedenfalls gerade vor. Was für eine durch und durch grauenhafte Geschichte!«
Dann wurde es still. Die Frau war gerade erst dreißig und hatte noch ein ganzes Leben vor sich, ehe sie das fachliche Niveau ihres Mentors erreicht haben würde, aber aus irgendeinem Grund hatte sie hier die Oberhand. Böse Zungen behaupteten, er sei in sie verliebt, aber seit sie ihn ein halbes Jahr zuvor mit seiner Tochter vor einem Kino gesehen hatte, wusste sie es besser. Die beiden gleichaltrigen Frauen sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Außerdem gefiel es ihm wohl, dass sie nicht vor ihm kroch, anders als die meisten bei einer der größten Kapazitäten des gesamten Rikshospitals.
Jetzt schloss er die Augen und lehnte den Kopf an die Wand.
»Dieser Junge«, sagte die Frau nach einer Weile.
»Welcher Junge?«, fragte er, ohne seine Haltung zu ändern.
»Der gestern Abend gekommen ist. Er ist einfach liegen geblieben. Hat nichts mit den Anschlägen zu tun. Von einer Leiter gefallen, glaube ich.«
Er öffnete die Augen und starrte sie unter buschigen Brauen an.
»Ich habe eine CT gemacht«, fügte sie hinzu. »Schädelbruch. Intrazerebrale Blutung, mit Durchbruch in die Ventrikel. Dazu minimale Mittellinienverlagerung. Außerdem hatte er eine schwere Ellbogenfraktur.«
»Das alles nach einem Sturz?«
»Das weiß ich doch nicht, aber wenn er Pech gehabt hat und auf etwas Hartem gelandet ist ...«
Der Professor trat einen Schritt von der Wand vor und rollte abermals den Kopf hin und her.
»Der Junge hatte außerdem zwei Schneidezähne ausgebrochen«, sagte die Frau jetzt. »Der eine ...«
Sie räusperte sich und hielt dabei die Hand vor den Mund.
»Der lag noch drinnen. Im Mund, meine ich.«
»Machen Sie Blutproben«, befahl er. »Alles nach Vorschrift. Aber kurz und einfach. Füllen Sie den Totenschein aus, und wenn Sie nicht mehr finden als bisher, dann kreuzen Sie das Übliche für ›verdächtiger Todesfall‹ an und schicken Sie den ganzen Kram an die Polizei. Dann sollen die sehen, wie sie weitermachen.«
Ein düsteres Lächeln ließ seine Lippen schmaler werden.
»Heute haben wir nur die aus dem Regierungsviertel bekommen«, sagte er leise. »Morgen wird es schlimmer. Da ist Utøya dran. Ich will hundertprozentige Konzentration auf die ungeheure Aufgabe, vor der wir stehen. Schließen Sie den Jungen so schnell wie möglich ab.«
Der Schlaf entließ ihn ebenso brutal, wie er ihn wenige Stunden zuvor überwältigt hatte.
Es war erst sechs Uhr morgens am Sonntag, dem 24. Juli, als Jon Mohr die Augen aufschlug und merkte, dass sein Puls viel zu hoch war. Seine Ohren rauschten nach einem Traum, in dem er zusammengekrümmt in einem kleinen Raum gelegen hatte, der um ihn herum immer weiter schrumpfte. Turmhohe Metallwände waren auf ihn zugerückt, während er zu einem schwindenden Himmel hochblickte, den er nicht erreichen konnte. Als er keine Luft mehr bekam und sah, dass die Wände Stacheln hatten, erwachte er.
Er lag auf dem Rücken, die Arme an der Seite, die Beine leicht gespreizt, und grauenhafte Kopfschmerzen ließen ihn wimmern, als er sich abrupt aufsetzte. Ellen schlief tief. Sie hatte eine Schlaftablette genommen. Oder zwei, mutmaßte er, sie war so zusammengeschreckt, als er sie in dem unverschlossenen Badezimmer überrascht hatte. Jetzt lag sie friedlich auf der Seite, die Haare nach hinten gestrichen, dunkel und fettig, eingeschmiert mit einer Art Nachtbalsam, dem sie zu verdanken glaubte, dass sie mit dreiundvierzig
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