Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
leuchtete hinter der zerbrochenen Scheibe auf, zeigte aber keine Symbole. Sie steckte das Telefon seufzend wieder in ihre Handtasche und schaute zum Küchenfenster hinüber.
Jon starrte sie an. Sein Gesicht wirkte durch das Glas flach und konturenlos, als ob jemand erfolglos versucht hätte, es auszuwischen. Nur der breite Streifen aus geronnenem Blut zwischen Nase und Oberlippe war scharf und deutlich. Hinter Jon konnte sie den großen mageren Polizisten sehen, unbeweglich, während er auf jemanden wartete, der offenbar niemals kommen würde.
Sie drehte sich abrupt um und ging auf die Schiefertreppe zu, die auf beiden Seiten von niedrigen, blütenlosen Rhododendronbüschen gesäumt war. Die Stufen waren breit und tief, und auf der obersten lag ein Feuerwehrauto aus Kunststoff, vielleicht dreißig Zentimeter lang. Inger Johanne blieb mit den Füßen auf zwei verschiedenen Stufen stehen.
Es war Sulamit.
Sie hob es auf.
Natürlich war es nicht Sulamit. Das Feuerwehrauto, das Kristiane ihre ganze Kindheit hindurch gehabt und seltsamerweise wie eine geliebte Katze behandelt hatte, war längst tot. Leiter und Räder waren zuerst verschwunden, danach alle anderen losen Teile, ehe auch die Farbe verblasste und schließlich abblätterte. Als von dem Spielzeugauto nur noch ein grauer Metallklumpen übrig war, konnte darin sogar Kristiane nicht mehr ihre Pseudokatze erkennen. Jetzt lag es im Tulpenbeet am Hauges vei begraben, unter einem kleinen Holzkreuz, dessen Inschrift, »RIP Sulamit«, in jedem Frühling mit rosa Farbe erneuert wurde.
Dieses Auto sah aber genauso aus wie Kristianes einstmals liebster Besitz.
Die gleichen Augen, die um die Scheinwerfer gemalt waren, die gleiche silberne Leiter und die überdimensionalen, glänzend schwarzen Räder. Klappen auf beiden Seiten, die geöffnet werden konnten, für Schläuche und Schutzanzüge, die Inger Johanne total vergessen hatte.
»Sander«, flüsterte sie dem Auto zu, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Kleiner, großer, seltsamer Sander.«
Vorsichtig stellte sie das Auto wieder auf die Treppe, an die Seite, halb versteckt unter den dicken dunkelgrünen Rhododendronblättern. Der Lack war dick und blank, und die Augen lugten schräg und munter zu ihr hoch, ein Spielzeug, das seinen Besitzer überlebt hatte.
Sie rannte los.
Auf halbhohen Absätzen lief sie nach Hause, mit dem Regenschirm unter dem Arm und einer kleinen Tasche über der anderen Schulter. Erst als sie müde wurde und sich an der einen Ferse eine Blase ankündigte, wurde sie langsamer und merkte, wie ruhig es überall war. Kein Mensch war unterwegs. Kein angebranntes Fleisch von Terrassen und Veranden plagte ihre Nase, die Grills standen dort zum Schutz vor dem Regen unter Dachvorsprüngen, vor dem ewigen Regen, der den Sommer 2011 bald ruiniert haben würde. Die Kinder, die sie auf dem Weg zu Ellen auf Rädern und Ballspielplätzen gesehen hatte, waren verschwunden. Durch einige Fenster der Hochhäuser im Betzy Kjelsbergs vei konnte Inger Johanne Fernseher erkennen, die lautlos im feuchten Abendlicht flackerten.
Nur das dumpfe Dröhnen eines fernen Hubschraubers, den sie nicht sehen konnte, brach diese seltsame Stille über Oslo. Vielleicht waren es auch zwei. Oder drei.
Wieder rannte sie los.
Es ging auf vier Uhr zu. Der Morgen des 23. Juli graute ganz zaghaft hinter den Fenstern, nur eine knappe halbe Stunde bis zum Sonnenaufgang hinter der Wolkendecke, die noch immer tief über der Stadt hing.
»Mama«, flüsterte Inger Johanne und stupste ihre Mutter an, die am anderen Ende des Sofas unter einer blauen Wolldecke leise schnarchte. »Wach auf. Jetzt kommt eine Pressekonferenz.«
Jack, die gelbgraue Promenadenmischung der Familie Stubø/Vik, erhob sich vom Boden und drehte drei steifbeinige Runden um sich selbst, ehe er sich mit einem Seufzer wieder hinlegte.
»Warum flüsterst du?«, murmelte die Mutter und richtete sich mit steifen Bewegungen auf. »Ich habe nicht geschlafen. Hatte nur kurz die Augen zugemacht. Was hast du gesagt?«
Inger Johanne gab keine Antwort. Stattdessen griff sie nach der Fernbedienung und drehte den Fernseher lauter, ehe sie die Füße aufs Sofa zog. Die Mutter legte ihre trockene warme Hand über ihre.
»Wie schön, dass du angerufen hast«, sagte sie leise. »Das hat mich so gefreut, Schatz. Als diese schreckliche Sache anfing, habe ich mindestens zehnmal versucht, dich anzurufen. Ich konnte doch nicht wissen, dass dein Telefon zerbrochen
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