Schattenkuss
Während sich alle die Teller füllten, klärte Tom Lukas über den Wert der deutschen Sprache auf und wie wichtig es war, sie zu beherrschen.
Die Soße war höllenscharf geworden. Auf Lenas Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Steffi, die gerne scharf aß, fand Toms Kreation dagegen superlecker. Wenigstens etwas hatte er heute also zu ihrer Zufriedenheit hingekriegt.
Nach dem Essen checkte Lena ihre Mails. Eine war von Maike. Sie schrieb, die Sprachschule in Cornwall sei toll. Keiner interessiere sich dafür, was man in seiner Freizeit tat, und sie hätte schon jede Menge interessante neue Leute kennengelernt.
Das Telefon im Wohnzimmer begann zu klingeln. Steffi nahm ein Bad und Tom war mit Lukas im Garten. Seufzend schob Lena den Stuhl zurück, ging hinunter und nahm das Gespräch an. »Lena Michaelis.«
»Oh, hallo Lena. Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst. Es ist ja einige Jahre her. Tante Marie aus Altenbrunn.«
Tante Marie? Ein vages Bild stieg in Lena auf. Eine dünne, alte Frau in kunterbunten Klamotten und mit schneeweißem Haar, das raspelkurz geschnitten war. Zwischen den nikotingefärbten Fingern eine Zigarette. Die Schwester von Steffis Mutter. »Omas Schwester. Doch, ich erinnere mich. Deine Katze hatte Junge, als wir das letzte Mal da waren. Die waren süß.« Wie lange war das her? Bestimmt acht Jahre. Ihr halbes Leben.
»Kann ich Steffi sprechen?« Tante Marie klang besorgt. Etwas war passiert. Das spürte Lena instinktiv. »Sie ist in der Badewanne. Soll ich sie rausholen?«
Einen Augenblick war es still, dann folgte ein Seufzer. »Ich fürchte, es muss sein. Es ist wichtig.«
»Okay. Dauert zwei Minuten.« Lena legte den Hörer auf den Tisch und ging nach oben, um Steffi zu holen.
In ihren Frotteebademantel gehüllt und mit nassen Haaren kam sie kurz darauf ins Wohnzimmer, sichtlich beunruhigt. Der angespannte Zug hatte sich um ihre Mundwinkel gelegt, der immer dann dort erschien, wenn Steffi sich Sorgen machte.
»Tante Marie? Grüß dich.« Lena beobachtete ihre Mutter, die langsam auf das Sofa sank, während sie mit ihrer Tante sprach. »Einfach so? … Aber sie war doch immer so gesund. Oder hatte sie in den letzten Jahren … Nein … Das wusste ich nicht … Entschuldige … ich muss das erst … ich melde mich … natürlich.« Steffis Gesicht war so weiß geworden wie ihr Bademantel. Das Telefon fiel aufs Sofa. Voller Bestürzung bemerkte Lena, dass sie weinte.
»Mama! Was ist denn?« Mit zwei Schritten war Lena bei ihr und setzte sich neben sie. »Ist was mit Oma?«
Steffi schniefte und wischte Tränen weg. »Sie ist im Garten umgefallen. Einfach so. Beim Johannisbeerenpflücken. ›Herzinfarkt‹, hat der Notarzt gesagt. Sie … sie war sofort tot.«
Lena starrte ihre Mutter an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war das erste Mal, dass jemand aus ihrer Familie starb. Und trotzdem löste diese Nachricht keine Welle der Trauer in ihr aus. Lena hatte keinerlei Beziehung zu ihrer Großmutter Karin gehabt. Seit Jahren hatte es keine Besuche und kaum Telefonate gegeben. Weshalb eigentlich? Und jetzt war sie also tot. Hilflos streichelte Lena Steffi über den Arm.
Vor Urzeiten hatte Steffi sich mit ihren Eltern zerstritten und war danach nur noch selten nach Bayern gefahren. Zu Omas sechzigstem Geburtstag und dann zu Opas Beerdigung vor acht Jahren. Erinnerungen an diese hagere Frau mit dem verbitterten Zug um den Mund stiegen in Lena auf. Damals vor acht Jahren hatte sie ständig an Steffi herumgenörgelt und Lena hatte eine Ohrfeige kassiert, weil sie im Garten Himbeeren genascht hatte.
Steffi stand auf, holte aus der Küchenschublade ein Päckchen Papiertaschentücher und schnäuzte sich. »Bist du so lieb und holst Tom rein?« Sie wies auf den Bademantel. Klar. Niemals würde sie so auf die Terrasse gehen.
Kurz darauf saß die Familie Michaelis am Küchentisch. Tom legte seinen Arm um Steffi, Lukas sah ratlos in die Runde. Er hatte keine Erinnerungen an Oma. Lena starrte auf die Maserung der Kiefernholzplatte und wühlte in ihrem Gedächtnis. Geblümte Kittelschürze, blond gefärbte Dauerwelle, traurige Augen.
Ein zerknülltes Papiertaschentuch verschwand in der Tasche des Bademantels. Steffi räusperte sich. »Ich werde mich wohl um die Beisetzung und die ganzen Formalitäten kümmern müssen. Das ist nicht Tante Maries Aufgabe, sondern meine … Wir sollten also packen und morgen möglichst früh fahren.«
Lukas’ Kopf schnellte hoch. »Und was
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