Schattenkuss
jede ihrer Bewegungen. Lena und Steffi traten hinter dem Auto hervor und auch Florian und Daniel wagten sich aus der Deckung.
Florian lief zu seinem Vater. »Oma ist völlig durchgeknallt. Sie hat mich in den Schuppen gesperrt und ihn abgefackelt. Und sie hat Ulrike umgebracht und all diese Postkarten geschrieben.«
Benno stand im Scheinwerferlicht und fuhr sich mit einer müden Geste übers Gesicht. »Das war ich.« Er sah in die Runde. »Nicht die Postkarten. Die habe ich nicht geschrieben. Das war Mutter. Ich habe Ulrike …« Er trat auf Steffi zu, die Arme ratlos ausgebreitet. »Ich wollte das nicht. Es ist einfach … passiert … Ich habe sie doch geliebt. Es tut mir so leid.« Steffi und Tom, Florian, Daniel und Lena starrten Benno an. Nichts an ihm erinnerte Lena mehr an den strahlenden Mann, der sie erst vor wenigen Tagen an Omas Gartenzaun so fasziniert hatte. Jetzt war er nur noch ein Häufchen Elend, ein kleiner Junge, der für etwas um Entschuldigung bat, das nicht zu entschuldigen war. Er hatte Ulrike umgebracht!
»Was?« Steffis Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Was hast du?« Sie schlug die Hand vor den Mund. Tom trat neben sie, nahm sie in die Arme.
»Es ist einfach so passiert«, wiederholte Benno. »Ich wollte es nicht … wirklich.« Hilflos ließ er die Arme sinken und blickte zu Boden.
»Wann?«, fragte Tom tonlos.
»In der Nacht, in der sie weggelaufen ist. Ich wollte sie nur mitnehmen … nach Tölz, zum Bahnhof.« Stockend berichtete Benno, was in jener Nacht geschehen war. Wie er danach in Panik nach Hause gefahren war zu seiner Mutter und wie sie es dann gerichtet hatte, so wie sie bisher alles in seinem Leben gerichtet hatte. »Der Garten wurde damals neu angelegt. Die Pflanzlöcher für die Obstbäume … Mutter hat Ulrike … also sie hat sie dort …« Benno suchte nach Worten.
»Sie hat Ulrikes Leiche in eines der Löcher geschmissen und dann einen Baum darauf gesetzt?«, fragte Lena ungläubig. Benno nickte. »Sie liegt unter dem Birnbaum.«
So nah, all die Jahre, dachte Lena. Mit einem Mal fühlte sie sich wie leer gesogen. Aus der Ferne erklangen die Martinshörner der Polizeifahrzeuge und wurden rasch lauter. Lena wandte sich ab. Sie ging durch den mondbeschienenen Garten und setzte sich auf die Stufen der Veranda. Sie wollte allein sein. Einen Augenblick später spürte sie eine Bewegung in ihrem Rücken. Wortlos setzte Daniel sich neben sie und schwieg mit ihr gemeinsam.
37
Als sie am nächsten Morgen erwachte, wunderte Lena sich, dass sie überhaupt geschlafen hatte. Die Erinnerungen an die Ereignisse der vergangenen Nacht waren durch ihren Kopf gewirbelt, bis sie völlig erschöpft eingeschlafen sein musste.
Ihr Hals schmerzte noch. Der Notarzt, der im Gefolge der Polizei an der alten Villa aufgetaucht war, hatte sie verarztet, ihr eine Spritze gegeben und etwas zum Abschwellen. Außerdem hatte er ihr geraten, den Hals zu kühlen, nachdem sie sich geweigert hatte, ihn ins Krankenhaus zu begleiten.
Kaffeeduft zog durchs Haus. Aus der Küche war das Klappern von Geschirr zu hören. Tom machte Frühstück. Lena schlüpfte in Jeans und T-Shirt und ging zu ihm. »Morgen, Tom.«
Er nahm sie in die Arme und zog sie an sich. Lena war froh, dass er ihr bisher keine Vorwürfe gemacht hatte. Das hätte sie jetzt nicht auch noch ertragen können. »Guten Morgen, Lena. Was macht der Hals?«
»Geht schon.«
Aus dem Kühlschrank holte er eines der Coolpacks, die er gestern Nacht noch in einer Apotheke besorgt hatte, steckte es in die dazugehörende Stoffhülle und reichte es ihr. Lena setzte sich damit an den Tisch.
Florian war gestern total zusammengebrochen. Er hatte einen Schreikrampf bekommen, war auf seinen Vater losgegangen, bis Odakota ihn weggezerrt hatte. Odakota. Wenn er nicht gewesen wäre … Seit Tagen schon war er ihr gefolgt, hatte sie beobachtet, da er befürchtete, dass sie durch ihre Ähnlichkeit mit Ulrike Unheil heraufbeschwor.
»Wie geht es Mama?«, fragte Lena.
Tom füllte die Semmeln und Brezen in den Brotkorb und setzte sich neben Lena. »Nicht so gut. Sie hat nie daran gezweifelt, dass Ulrike dieses freie Leben führt, von dem sie immer geträumt hat. Dass es ihr gut geht, dass sie lebt. Bennos Geständnis hat sie völlig aus der Bahn geworfen.« Tom blickte hinüber zum Garten der Leitners. »Der Kommissar, der die Ermittlungen nun leitet, hat vorhin angerufen. Am späten Vormittag werden sie den Birnbaum …« Er fuhr sich durch
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