Schattennächte: Thriller (German Edition)
befand sich darin, ihre Brieftasche, die letzte Aufnahme von Leslie.
Kent Westin hatte das Foto auf der Geburtstagsfeier gemacht, an dem Abend, bevor sie verschwand. Er hatte es Lauren in der darauffolgenden Woche gegeben und sich entschuldigt für das, was er beim Verlassen des Restaurants gesagt hatte – dass man Leslie einmal eine Lektion erteilen sollte.
Die Freundschaft zwischen den Lawtons und den Westins war über den Ermittlungen zu Leslies Verschwinden zu Bruch gegangen. Kent war mehrere Male vernommen worden und hatte sich einem Lügendetektortest unterzogen, den er bestand. Aber die Westins hatten sich in der Folge zurückgezogen, und sie hatten nie mehr zu ihrem leichten Umgangston zurückgefunden. Es gab keine gemeinsamen Geburtstagsfeiern mehr und auch sonst keine gemeinsamen Abendessen.
Lauren hatte Kent die Bemerkungen, die er später zurücknahm, niemals ganz verziehen, genauso wenig, dass die Polizei ein so großes Interesse an ihm gezeigt hatte. Bis Roland Ballencoa als Verdächtiger auf der Bildfläche erschienen war, hatte sie immer wieder an Leslies Widerstand gegen dieses letzte Abendessen denken müssen. Leslie mochte die Westins nicht. Sie fand Dr. Westin unheimlich.
Dennoch hatte sie die letzten vier Jahre den Schnappschuss, den Kent Westin gemacht hatte, immer in ihrer Handtasche bei sich getragen. Sie spürte Panik in sich aufsteigen, weil das Foto draußen im Auto war, weil sie es nicht einfach herausnehmen und betrachten konnte. Es war wichtig, dass sie es vor dem Schlafengehen hervorholte. Eine irrationale Angst überkam sie, dass sie vergessen könnte, wie ihre Tochter aussah, wenn sie es nicht tat. Denn wenn sie vergaß, wie ihre Tochter aussah, kam das fast dem Eingeständnis gleich, dass sie tot war.
Lauren ging zur Haustür, hielt dann jedoch inne, die Hand schon danach ausgestreckt. Ein unheimliches Gefühl überkam sie. Draußen fuhr der Wind durch die Bäume. Die schwarzen Fensterlöcher schienen noch größer zu werden und die Welt dazu einzuladen, zu ihr hereinzusehen.
Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn man beobachtet wurde. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie zitterte.
Das Grundstück ist von einem hohen Zaun umgeben , sagte sie sich.
Aber über Zäune konnte man klettern.
Sie dachte an das Foto in ihrer Handtasche, und das Gesicht ihrer Tochter verblasste bereits. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß, so groß wie eine Faust.
Sie musste zum Auto und ihre Tasche holen.
Rasch lief sie durchs Haus und die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Die schwarze Tasche lag neben dem Toilettentisch auf dem Boden. Sie warf sie aufs Bett, öffnete den Reißverschluss und nahm die Walther und ein volles Magazin heraus. Sie schob das Magazin in die Pistole und lud durch.
Zurück in der Küche, holte sie tief Luft und drehte den Türknauf.
Sie hatte das Auto nicht in die Garage gefahren, sondern in der Einfahrt abgestellt, weil sie noch einmal wegfahren wollte. Wie es da so stand, wirkte es fast so gefährlich wie ein großer, glänzend schwarzer Panther. Und die Entfernung kam ihr auf einmal riesig vor.
Die Waffe eng an sich gedrückt, legte sie den Finger um den Abzug und trat hinaus. Mit klopfendem Herzen ging sie auf den BMW zu und sah nach links und nach rechts. Sie trat zur Beifahrertür und warf einen Blick auf den Sitz, und erleichtert erkannte sie den Umriss der Tasche.
Keiner hatte sie genommen. Sie war paranoid, völlig neurotisch.
Schnell öffnete sie die Tür und nahm die Tasche, aber bevor sie sich wieder umdrehte, sah sie etwas aus dem Augenwinkel, etwas an der Windschutzscheibe auf der Fahrerseite.
Lauren trat einen Schritt zurück und hängte sich ihre Tasche über die Schulter. Unter dem Scheibenwischer klemmte ein Stück Papier, das im Wind flatterte. Sie blickte sich um, packte den Griff der Walther noch ein wenig fester. Der Wind schien unter ihre Kleider zu fahren und sie mit sich reißen zu wollen.
Sie lief um die Motorhaube des BMW herum und zog das Papier unter dem Scheibenwischer hervor.
Im schwachen Schein der Lampen an der Garage erkannte sie, dass es ein Foto war. Schwarz-weiß. Jemand war auf das Grundstück eingedrungen, ohne dass sie es mitbekommen hatte, und hatte dieses Foto hinterlassen.
Auch ohne zu wissen, was auf dem Bild zu sehen war, fühlte sie sich angegriffen. Sie meinte, jemandes Blicke in ihrem Rücken zu spüren, als sie zögernd zur Garage ging, näher ans Licht. Die Schatten im Garten bewegten sich mit
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