Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
gesteckt haben. Vielleicht assoziiert er damit ja gewisse Doktorspielchen. Du weißt schon, die Sauereien, die …«
»Igitt. Ich will nichts darüber hören«, stöhnte ich ins Handy. »In meinen Augen ist mein Bruder ein reines Wesen, erhaben über jedes körperliche Bedürfnis. Wenn Rufus dich in diesem Krankenhaushemdchen dazu bekommen wollte, dich einmal vorzubeugen, dann bestimmt nur, weil er sich davon überzeugen wollte, dass noch alles bestens bei dir funktioniert. Nicht mehr und nicht weniger.« Es fühlte sich dermaßen gut an, einfach sinnbefreites Zeug mit Lena zu reden. Nur leider konnte ich es nicht dabei belassen. »Du, Lena. Ich bin gestern nicht zu dir gekommen, weil ich mit Sam in der Sphäre war, dem Ort, an dem die Schattenschwingen leben. Eine andere Welt.« Mir stockte der Atem, während auf Lenas Seite der Leitung ein scharfes Einatmen zu hören war. »Nikolai …« Meine Zunge weigerte sich fast, den falschen Namen auszusprechen und damit die Verantwortung für das Geschehene einem Unschuldigen zuzuschieben. Nur war es für Lena gleichgültig, ob Nikolai oder Ask für ihren Zustand verantwortlich war. Also fuhr ich fort: »Nikolai wird unsere Welt nie wieder betreten, das verspreche
ich dir. Nach dem, was gestern geschehen ist, werden unsere Welten vermutlich sogar so weit auseinanderdriften, dass wir mit keiner Schattenschwinge mehr in Berührung kommen.«
»Nicht einmal mit Sam?«
Zu meiner Verwunderung hörte ich Enttäuschung aus Lenas Stimme heraus. Erschienen ihr die Schattenschwingen im Nachhinein vielleicht doch nicht ausschließlich als Widerspruch zu den Naturgesetzen? Gelang es ihr trotz ihres schrecklichen Erlebnisses, nun auch die andere, lichte Seite der Schattenschwingen zu sehen? Jene Seite, die ich im Lauf der letzten Tage ebenfalls vergessen hatte?
»Sam hat sich entschlossen, in St. Martin zu bleiben. Er will ein ganz normales Menschenleben führen.« Bei den Worten legte sich ein Gewicht auf meine Brust, das ich mir nicht erklären konnte.
»Vermutlich rede ich Käse, aber irgendwie tut es mir leid für ihn«, sprach Lena aus, was mir ebenfalls durch den Kopf ging. »Außerdem ist es ein echter Verlust, künftig auf die Gesellschaft dieses Quatschkopfs Ranuken verzichten zu müssen.«
»Und auf Shirin«, fügte ich leise hinzu.
Nachdem ich das Telefonat beendet hatte, stand ich ein wenig hilflos im Zimmer herum. Dann schnappte ich mir meine Jacke und lief die Treppe hinunter. In der Küche griff ich mir noch rasch die Tüte mit den vom Frühstück übrig gebliebenen Brötchen und rief zu Reza, die auf der Terrasse die mitgebrachten Setzlinge in Töpfe pflanzte: »Ich statte Sam einen Besuch im Wohnwagen ab. Die Pressekonferenz müsste ja vorbei sein. Hab mein Handy dabei, falls was ist.«
»Mila, warte! Wir haben noch einiges zu besprechen.« Hastig versuchte meine Mutter ihre erdebeschmierten Clogs abzustreifen, um mich im Wohnzimmer abzufangen. Deshalb
sauste ich rasch weiter. »Sieh wenigstens zu, dass dich niemand aus der Schule sieht, wir haben dich schließlich für heute krankgemeldet. Über die Schule müssen wir auch noch ein ernsthaftes Gespräch führen. Schwänzen dulde ich nämlich nicht.«
»Ein anderes Mal. Okay, Mama?« Ich winkte und sah zu, dass ich zur Garage kam, wo mein Fahrrad stand.
36
Verschmelzen
Nachdem ich mein Bike, beziehungsweise das meiner Mutter, sorgfältig angeschlossen hatte, erklomm ich mit langen Schritten den Hügel, der zur Surfschule führte. Obwohl der September bereits fortgeschritten war, war immer noch ordentlich was los: Schulklassen, Alt-Herren-Kegelklubs und einige andere Hartgesottene konnte das kühler werdende Herbstwetter nicht schrecken. Tapfer liefen sie in ihren Neoprenanzügen herum, abwechselnd bunte Segel und Kaffeebecher schleppend. Ich hatte die lockere Atmosphäre bei der Surfschule stets gemocht. Bei jedem Kurs, den Rufus hier absolviert hatte, war ich mit von der Partie gewesen, wenn ich dabei auch unverrückbar wie ein Fels am Strand sitzen geblieben bin.
Jetzt, da ich auf das schiefergraue Meer vor der Bucht schaute, hielt ich das rückblickend für eine sehr weise Einstellung. Unvermittelt überkam mich das Gefühl, erneut von eisiger Kälte umgeben zu sein, die meine Glieder rasch taub werden ließ. Ein unsichtbarer Griff schloss sich um meine Kehle und drückte gnadenlos zu. Ich stand genauso hilflos da, wie ich es im tiefen, wogenden Bauch des Meeres gewesen war. Der Boden unter meinen Füßen
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