Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
Prolog
Im Laufe des Abends war der Westwind kräftiger geworden und brachte die Blätter des Waldes zum Rauschen. Die Versammlung vor der Ruine kümmerte sich weder um die dichter werdende Dunkelheit noch um den Geruch von Regen, den der Wind mit sich trug. Der Platz, der erst vor einigen Tagen in mühseliger Handarbeit inmitten einer Wiese geschaffen worden war, lag leer da. Dafür war an seinen Rändern keine Handbreit mehr frei, denn dort hatten sich die Schattenschwingen niedergelassen. Nur einige wenige, die sich strikt weigerten, den Boden zu berühren, schwebten darüber. Das Leuchten ihrer Aura ließ den Platz von Ferne wie eine Lichtkuppel erscheinen, und als eine schmale, hochgewachsene Gestalt sich aus dem Kreis löste, warf sie nur einen diffusen Schatten. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch das Fehlen jeglicher Farben: so weiß wie die Haut war, so schwarz waren Haare und Augen.
Es war Asami, der Erste Wächter, der das Wort ergriff. »Wir alle sind aufgebracht. Einige deshalb, weil der unerwartete Angriff des Unbekannten vor einigen Tagen ein Schock für sie war. Dies umso mehr, als diese Attacke ausgerechnet während unserer ersten Versammlung seit dem so lange zurückliegenden Krieg stattfand. Die meisten von uns aber sind es, weil sie sehr lange allein gelebt haben, ohne Kontakt zu anderen Schattenschwingen. Nun fällt es ihnen schwer, eine Gemeinschaft bilden zu müssen. Vor allem bei
unseren Älteren werden dadurch böse Erinnerungen geweckt an eine Zeit, die wir hinter uns gelassen geglaubt hatten. Selbst für mich, der erst nach dem Krieg in die Sphäre kam, fühlt es sich beunruhigend an. Zu sehr widerspricht dieses enge Beieinandersein dem Leben, das wir in der Sphäre als das richtige ansehen. Jeder bleibt für sich, nur die jüngeren Schattenschwingen halten sich an ihre Wächter. Niemand wechselt in die Menschenwelt, niemand forscht nach seinen Gaben. So haben wir es seit dem Krieg aus gutem Grund gehalten. Der Angriff jedoch hat uns vorgeführt, dass eine neue Ära anbricht. Wenn wir den hart erkämpften Frieden in der Sphäre aufrechterhalten wollen, müssen wir uns dieser Herausforderung stellen.«
Ein beunruhigtes Murmeln ging durch den Kreis der Schattenschwingen, begleitet von einem Reiben und Scharren. Schwingen wurden ausgebreitet, um das eigene Revier zu verteidigen, es wurde drohend gezischt und mit den nackten Füßen gestampft. Die Geräusche verrieten den äußersten Unwillen, mit dem viele von ihnen die Nähe ihrer Nachbarn ertrugen.
Eine Schattenschwinge von beeindruckender Statur stieß sich vom Boden ab, als ertrüge sie es keine Sekunde länger, Teil dieser Versammlung zu sein. Ein Mann mit kantigem Gesicht, in dessen Linien sich Moos festgesetzt hatte. Seine versehrten Schwingen, die aussahen wie an den Rändern versengtes Papier, trugen ihn nicht weit hinauf. Obwohl der Mann den Mund nicht öffnete, dröhnten seine harschen Worte durch die Köpfe der Anwesenden und hinterließen ein Echo.
Man hat mich vor fünf Nächten aus dem Schlaf gerissen, damit ich an einer Versammlung über das Schicksal eines Neuankömmlings teilnehme, und schon hat mich ein Gruß aus der Vergangenheit heimgesucht. Nicht dass mich das überrascht hätte. Genau
darin bestand die Lektion der Vergangenheit: Sobald wir anfangen, unser altes Leben wieder aufzunehmen, schaufeln wir bloß unser eigenes Grab. Es ist die Verbindung zur Menschenwelt, die unser Schicksal besiegeln wird, da gibt es nichts zu bereden. Die Pforte dieses Bengels , er zeigte anklagend auf Samuel, der aufrecht, aber mit vor Aufregung geröteten Wangen neben Kastor stand, muss geschlossen werden, dann kann auch die Kraft nicht mehr geschöpft werden, die für solche Übergriffe erforderlich ist. Aber du bist offensichtlich außerstande, einen solchen Beschluss durchzusetzen, Asami.
»Du hast recht. Das bin ich.« Asamis Antwort fiel erstaunlich ruhig aus, dabei war mit einem solchen Eingeständnis gerade bei der Schattenschwinge mit den asiatischen Gesichtszügen nicht zu rechnen. »Es bleibt dir jedoch unbenommen, Samuel in seine Schranken zu weisen, Maurus. Allerdings solltest du zuvor darüber nachdenken, ob du ihm wirklich gewachsen bist, da ich es auch nicht gewesen bin. Und vergiss nicht: bevor du dich Samuel entgegenstellen kannst, musst du erst an mir vorbei. Mein Leben gehört ihm.«
Maurus stieß ein schallendes Lachen aus, dem Verachtung innewohnte. »Mit dieser Aussage macht sich der Erste Wächter selbst
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